Golem stiller Bruder
unser aller Leben. Zu oft schon ist es so gewesen, genau so. Das wissen auch die Ältesten, die jetzt dort oben sitzen und mit dem Rabbi auf Doktor Balthasar warten, als könne der die Rettung bringen. Aber glaubt mir, unsere Rettung kommt nur von dem, der Himmel und Erde gemacht hat.« Und leise, sehr leise, fügte sie hinzu: »Ich habe Angst, dass er seine Hand von uns genommen hat.«
Wieder breitete sich Schweigen zwischen ihnen aus. Jemand kam die Treppe herunter, ging durch den Flur und verließ das Haus. Doch es dauerte nicht lange, da waren seine Schritte wieder zu hören, diesmal treppauf. Einer der Männer war also nur zum Abtritt gegangen, der sich auf der Rückseite des Hauses befand.
Schmulik rutschte auf seinem Stuhl hin und her. »Ich halte das nicht aus«, sagte er plötzlich. »Soll ich euch von Reb Meisl erzählen und wie er zu seinem Reichtum gekommen ist?«
Jente lächelte traurig und strich ihm mit der Hand über die Wange. »Ja«, sagte sie, »ja, warum nicht? Ich kenne die Geschichte ja, aber Jankel nicht. Weißt du noch, Jankel, dass du sie mal unbedingt hören wolltest?«
Jankel nickte. Er war eigentlich zu ungeduldig, um sich eine von Schmuliks Geschichten anzuhören, aber er wusste, dass sein Freund das schweigende Warten nur schwer aushielt.
»Also hört zu«, fing Schmulik an. »Vor langer Zeit, es müssen seither schon gut fünfzig, sechzig Jahre vergangen sein, kehrte Rabbi Jizchak, der damalige Primas der jüdischen Gemeinde Prags, von einer Reise nach Lublin zurück. Seine Kutsche fuhr durch einen dichten Wald, und da wurde es auf einmal dunkel wie in der Tiefe der Nacht, obwohl es noch mitten am Tag war. Die Pferde fingen an zu scheuen, sie bäumten sich auf und rasten mit der Kutsche über die Waldwege, mal in die eine Richtung, mal in die andere, sodass dem Kutscher auf dem Bock und dem Rabbi im Wagen angst und bange wurde. Und als die Pferde endlich erschöpft und schweißbedeckt und mit schäumenden Mäulern stehen blieben, musste der Kutscher dem Rabbi bekennen, dass er nicht mehr wusste, wo sie waren.
Rabbi Jizchak war zum Glück ein mutiger Mann, er ließ sich nicht so schnell aus der Fassung bringen. Er stieg aus und schaute sich um. Da entdeckte er in der Ferne ein kleines, rötliches Licht, ein Flämmchen nur, das aber schnell größer und größer wurde. Er befahl dem Kutscher, den Pferden die Augen zu verbinden und zu warten, dann machte er sich auf, um herauszufinden, was es mit diesem seltsamen Licht auf sich hatte.«
»Wolltest du nicht von Reb Meisl erzählen?«, unterbrach ihn Jankel.
»Du bist zu ungeduldig, mein Freund«, sagte Schmulik. »Um eine Geschichte gut zu erzählen, braucht es Zeit und Geduld und auch zum Anhören braucht es Zeit und Geduld. Wäre es etwa eine Geschichte, wenn ich nur sagen würde: Reb Meisl war einmal ein armer Junge, dann wuchs er he ran, heiratete und wurde reich? Ich wäre mit einem Satz fertig und du hättest nichts Neues erfahren. Also hör zu: Das Flämmchen hatte sich inzwischen zu einer Flamme ausgewachsen, und als der Rabbi näher kam, sah er zwei Männchen, kaum größer als Kinder, die gerade die ersten Buchstaben lernen, aber mit langen, grauen Bärten. Sie sprangen vor einem großen Haufen glühender Goldmünzen hin und her und füllten sie in Säcke ab, ohne dem Rabbi auch nur einen Blick zu schenken. Dieser schaute ihnen eine Weile zu, dann fragte er, für wen das ganze Gold denn bestimmt sei.
›Nicht für dich‹, sagte eines der beiden Männchen und verschwand, und zusammen mit ihm verschwanden der Goldberg und die Säcke, nur noch ein paar einzelne Goldstücke waren auf dem Boden liegen geblieben.
Das andere Männchen war freundlicher, es antwortete: ›Das Gold ist für einen von euch, aber du hast ihm durch deine Frage keinen Gefallen getan.‹ Und als es das bestürzte Gesicht des Rabbis sah, fügte es hinzu: ›Aber eines will ich dir verraten: Derjenige, für den das Gold bestimmt ist, wird es erst dann bekommen, wenn du deine Tochter bereits verheiratet hast.‹
›Darf ich einige dieser Goldstücke hier gegen andere austauschen?‹, fragte der Rabbi und das Männchen erlaubte es gnädig. Da zog der Rabbi drei Goldstücke aus seinem Beutel und hob dafür drei vom Boden auf. Im selben Moment war auch das zweite Männchen verschwunden und der Rabbi stand allein im Wald.
Nachdenklich ging er zurück und sagte zum Kutscher, das Licht sei nur der brennende Meiler eines Köhlers gewesen. Er hatte kaum zu
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