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Golem stiller Bruder

Golem stiller Bruder

Titel: Golem stiller Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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im Arm und wiegte mich, wenn ich in meinen Fieberträumen schrie.
    Ich war froh, als ich bei Doktor Balthasar ankam. Er hörte sich alles an, was ich zu sagen hatte, und versprach, sich gleich darum zu kümmern und anschließend den Hohen Rabbi Löw aufzusuchen, auch wenn es sehr spät sein würde.
    Auf dem Rückweg dachte ich daran, wie lange ich damals krank gewesen war, wie lange es gedauert hatte, bis die Schmerzen allmählich nachließen und ich nicht mehr jede Stunde, jede Minute daran denken musste. Die Schmerzen hörten auf und ich konnte langsam anfangen zu vergessen. Jetzt, so viele Jahre danach, verstand ich auf einmal, dass Vergessen ein Segen sein kann, eine Gnade, die uns die Zeit schenkt. Doch manchmal fordert sie das Geschenk zurück.

11. Kapitel
Erdrückende Beweise
    E s war, als hätte die Verzweiflung den Himmel über der Judenstadt verdunkelt, als hätte sie die Sterne verhüllt, um keine Hoffnung aufkommen zu lassen, als erfüllte sie die Luft zwischen Himmel und Erde, um auch die Vögel am Singen zu hindern. Es war, als hätten sogar die Häuserwände sich mit Verzweiflung vollgesogen, um sie in die Wohnungen auszustrahlen und dadurch alle anderen Gedanken aus den Herzen der Menschen zu vertreiben.
    In der Küche von Rabbi Löws Haus saßen Jankel und Schmulik am Tisch, auf dem nur eine Wasserkanne stand. Jankel erzählte Schmulik von dem Auftrag, mit dem ihn der Hohe Rabbi zu Doktor Balthasar geschickt hatte, und was dieser geantwortet hatte. »Jetzt sitzen die Gemeindeältesten oben zusammen und warten darauf, dass er kommt«, sagte er. »Und ich kann auch nicht schlafen gehen, bevor ich nicht weiß, ob Doktor Balthasar etwas herausgefunden hat.«
    »Ich bin dein Freund«, sagte Schmulik. »Ich bleibe hier, bei dir. Dies ist keine Nacht, in der man sich einfach schlafen legt. Da ist es besser, man sitzt zusammen und spricht miteinander. Und meine Mutter wird sich keine Sorgen machen, ich habe ihr gesagt, dass ich zu Jente gehe, ich habe sogar gesagt, dass ich wahrscheinlich über Nacht hierbleibe.« Und als er Jankels erstauntes Gesicht sah, fügte er hinzu: »Ich habe früher öfter hier geschlafen. Vergiss nicht, dass Jente meine Tante ist. Ich glaube, sie hat mich sogar besonders gern.« Er wurde rot.
    N atürlich hat ihn Jente besonders gern, dachte ich, es ist so leicht, ihn zu lieben. Er war warmherzig und freundlich und besaß die Gabe, die Herzen der Menschen zu erfreuen. An diesem Tag war ich besonders froh, dass er hierblieb. Ich wollte nicht allein sein. Ich fürchtete mich vor meinen Erinnerungen, denn sobald ich die Augen schloss, auch nur für einen Moment, sah ich das schmerzerfüllte Gesicht meines Vaters vor mir, sah, wie ihm die Tränen aus den Au gen liefen, und wünschte mir von ganzem Herzen, er wäre hier und könnte mich nach Hause tragen, so wie damals. Ich sehnte mich so sehr nach seiner Umarmung. Seit ich von Mo ř ina weggegangen war, hatte mich niemand mehr umarmt.
    J ente betrat die Küche. Sie hatte die alte Tante hinaufgebracht und ihr geholfen, sich niederzulegen. »Sie hat beschlossen, für die Rettung Reb Meisls zu fasten, ebenso wie der Rabbi. Aber wenn ihr mich fragt, ist sie zu alt zum Fas ten, und vor allem ist sie zu dünn, sie hat nichts zum Zusetzen.« Sie legte das Gesicht in die Hände und schwieg.
    Auch Jankel und Schmulik schwiegen. Das Schweigen zwischen ihnen war schwer und drückend und füllte die Küche ganz aus, bis Jente das Gesicht hob und sagte: »Jetzt sitzen sie da oben und warten. Sie warten und beratschlagen und zerkauen jedes Wort, und bevor sie es in den Mund stecken, streuen sie Salz und Pfeffer darauf, und wenn sie es wieder ausspucken, hoffen sie, es hätte sich nicht nur in der Form verändert, sondern auch in der Bedeutung.«
    Schmulik lachte, und Jankel sagte: »Was sollen sie sonst machen, außer zu beratschlagen und zu warten?«
    Jente nickte. »Das stimmt ja, sie können nichts machen. Und es geht nicht nur um Reb Meisl, der Ewige möge ihm helfen und ihm die Kraft geben, das alles durchzustehen. Doch die Bedrohung gilt nicht nur ihm, sie gilt uns allen, denn so hat es oft genug angefangen. Einer von uns, ein Jude, wird beschuldigt, etwas getan zu haben, dann wird er verurteilt, und nach dem Urteil nutzt der Pöbel die Gelegenheit, in angeblich berechtigtem Zorn über uns herzufallen, unsere Häuser zu plündern und uns niederzumetzeln. Nein, es geht nicht nur um das Leben von Reb Meisl, der Herr sei ihm gnädig, es geht um

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