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Golem stiller Bruder

Golem stiller Bruder

Titel: Golem stiller Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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verließen das Haus.
    Jente saß noch unten und wartete, als Jankel und Schmulik die Küche betraten.
    »Es ist mir lieber, du bleibst heute Nacht hier«, sagte sie zu Schmulik. »Ich habe dir einen Strohsack in Jankels Kammer gelegt.« Sie strich beiden Jungen freundlich über die Haare und wünschte ihnen eine gute Nacht, dann zog sie sich zu rück.
    Jankel und Schmulik sprachen das Nachtgebet und streckten sich auf ihrem Lager aus.
    I ch versuchte zu schlafen, aber der Schlaf wollte nicht kommen. Schmuliks Atemzüge waren nicht so beruhigend und tröstend, wie Rocheles immer gewesen waren, im Gegenteil, sie verrieten mir, dass auch er nicht schlief, er warf sich unruhig hin und her. Seit ich von Mo ř ina weggegangen war, hatte ich nicht mehr gut geschlafen. Ich hatte geglaubt, es liege daran, dass ich hier allein in einem Zimmer schlief, doch auch jetzt, mit Schmulik an meiner Seite, wollte der Schlaf nicht kommen.
    Ich dachte an Tante Schejndl, wie jeden Abend. Ich dachte viel öfter an sie als an meine Mutter, sie ruhe in Frieden, auch wenn das nicht richtig war und ich mich deshalb schuldig fühlte und mich schämte. Ich erinnerte mich daran, wie Tante Schejndl uns abends geküsst hatte, wie sie an meinem Bett gesessen hatte, als ich im letzten Winter sehr krank gewesen war, wie sie mir Suppe gekocht hatte, als mein Hals so wehtat, dass ich keine feste Nahrung schlucken konnte, und ich hoffte sehr, dass ihre Nichte Dwore jetzt so gut für sie sorgte, wie sie selbst immer für uns gesorgt hatte. Ich dachte auch an meinen Vater, ich sehnte mich nach seiner lauten, fröhlichen Stimme, nach den vielen Geschichten, die er immer erzählt hatte, wenn er aus der großen Welt nach Hause zurückgekehrt war. Doch kaum waren die Gedanken an meinen Vater da, stiegen auch die anderen Erinnerungen wieder in mir hoch, die ich so lange vergessen hatte, und ich musste gegen das Weinen ankämpfen, das in mir aufstieg.
    S chmulik«, fragte Jankel, »schläfst du schon?« »Nein«, sagte sein Freund, »ich kann nicht einschlafen.«
    »Ich auch nicht«, sagte Jankel. »Hast du vielleicht Lust, die Geschichte von Reb Meisl weiterzuerzählen?«
    »Mach die Kerze an«, sagte Schmulik.
    Jankel stand auf und zündete die Kerze an. Schmulik setzte sich auf seinem Lager zurecht, er zog die Beine unter sich und legte die Hände auf seine Knie. »Hör zu«, sagte er. »Ich überspringe die Zeit, in der Rabbi Jizchak sich um die Erziehung des Knaben Mordechaj kümmerte, denn es ist schon spät und wir müssen morgen früh aufstehen, ich, um in die Backstube zu gehen, und du, um deinen Onkel zum Gefängnis zu begleiten, deshalb werde ich jetzt einfach einen Teil der Geschichte überspringen.
    Rabbi Jizchak sorgte also dafür, dass Mordechaj Meisl etwas lernte, und als er alt genug geworden war, verheiratete er ihn mit seiner Tochter. Das erregte großes Aufsehen in der Judenstadt, denn Rabbi Jizchak war ein angesehener und wohlhabender Mann, er hätte für seine Tochter jeden haben können, die Söhne der besten Familien hätten sich darum gestritten, sein Schwiegersohn werden zu dürfen, und niemand verstand, dass er ausgerechnet den Sohn eines armen und noch dazu blinden Lastenträgers gewählt hatte, dessen Frau die Familie mit einem armseligen Alteisenhandel durchbrachte. Doch Rabbi Jizchak kümmerte sich nicht um das Gerede der Leute, er vertraute darauf, dass sein Schwiegersohn ein Liebling des Ewigen war.
    Mordechaj Meisl übernahm den kleinen Handel seiner Mutter und brachte es durch seinen Fleiß und seine Geschicklichkeit zu einem gewissen Wohlstand. Einmal kam ein Bauer und verlangte eine Sense und eine Sichel. ›Ich brauche diese Dinge notwendig‹, sagte er, ›aber ich habe im Moment kein Geld. Wenn du bereit bist zu warten, werde ich dir später alles bezahlen.‹
    ›Geh nur‹, sagte Mordechaj Meisl, der sich sein gutes Herz bewahrt hatte. ›Geh nur und bezahle mir dann, wenn du es kannst.‹
    Der Bauer war so dankbar, dass er Reb Meisl ein Geschäft vorschlug. Er habe zu Hause eine Eisentruhe, sagte er, die niemand öffnen könne, die wolle er ihm nach Gewicht verkaufen. Aus Gutmütigkeit ließ sich Reb Meisl auf den Handel ein. Ein paar Tage darauf brachte der Bauer mit seinem Fuhrwerk die Kiste und bekam dafür den Preis, den sie ausgemacht hatten.
    Abends nahm Reb Meisl einen Hammer und ein Stemmeisen, er wollte versuchen, die Kiste zu öffnen. Doch er brauchte sie nur zu berühren, da sprang der Deckel von allein auf,

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