Golem stiller Bruder
schmiegte, weil ich die Berührung eines Menschen brauchte, um mich selbst noch als Mensch zu fühlen. Und er, der Hohe Rabbi, der Maharal von Prag, legte den Arm um meine Schulter und drückte mich an sich, wie mein Vater es getan hätte, wäre er hier gewesen. Und er flüsterte fast unhörbar Worte aus den »Sprüchen der Väter«, die ich von meinem Vater kannte: »Diese Welt gleicht einer Vorhalle zur zukünftigen: Rüste dich in der Vorhalle, damit du in den Palast eintreten kannst. Wert voller ist eine Stunde der Besserung und der guten Taten in dieser Welt als das ganze Leben in der künftigen Welt.«
Z wei Soldaten stürmten die Stiege zur Bodenkammer hinauf, rissen sie auf und schlugen sie gleich darauf wieder zu. »Hier oben liegt ein Toter«, schrie einer von ihnen mit einer Stimme, der sein Erschrecken anzuhören war. Und mit einem gespielten Auflachen fügte er hinzu: »Aber der ist bestimmt kein Christ. Er ist nur eine Missgeburt, ein Monster, dem keiner eine Träne nachweint.«
Dann verließen sie das Haus, um den Schrecken ins nächste zu tragen, sie ließen nur das Echo ihres Lärms zu rück, das in der plötzlichen Stille nachhallte, als habe es sich an den Decken und Wänden festgekrallt wie Fledermäuse in einer dunklen Höhle.
Schweigend hoben der Rabbi, Schimon und Jankel ein Buch nach dem anderen auf und führten es an ihre Lippen, bevor sie es wieder auf die Borde legten. Danach ging Jankel hinunter und half Jente, die Küche aufzuräumen, die ähnlich aussah, wie die Küche in Reb Meisls Haus ausgesehen hatte. Jentes Gesicht war verschlossen, mit verbissenen Bewegungen kehrte sie das verschüttete Mehl zusammen, und Jankel machte sich daran, den Sirup von einem Stuhl zu wischen. Tante Perl saß mit aufgestützten Armen am Tisch, den Kopf in die Hände gelegt, und weinte. Jente strich ihr sanft und tröstend über den Kopf, aber was für einen Trost konnte sie schon geben? Plötzlich stand die alte Frau auf, wischte sich die Tränen ab und sagte: »Ein jegliches hat seine Zeit und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde, Steine wegwerfen hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit. Gut, dann sammeln wir sie jetzt.« Mit diesen Worten machte sie sich an die Arbeit und Jente lächelte.
I ch sah Jentes Lächeln, und ich verstand sie, denn auch ich erkannte in der alten Frau plötzlich die junge Perl, die Tochter Reb Schmelkes, die einen Laden für Brot und Salz aufgemacht hatte, um sich und ihre Eltern zu ernähren, die sich nicht nur dem Jammern und Klagen über den verlorenen Reichtum und der Sehnsucht nach ihrem fernen Bräutigam hingegeben hatte. In diesem Moment liebte ich meine alte Tante, die in ihrem Herzen noch so mutig war wie eine junge Frau.
E rst am späten Vormittag hatten die Eindringlinge die Judenstadt verlassen, und Ruhe war eingekehrt, eine trügerische Ruhe, die fast schwerer zu ertragen war als der vorherige Lärm. Der Rabbi, Schimon und Jankel setzten sich an den Tisch und nahmen ihre Morgenmahlzeit ein. Sie hörten, wie Josef die Treppe herunterkam, und als die Haustür laut zufiel, spürte Jankel zu seinem eigenen Erstaunen, wie sich seine Mundwinkel unwillkürlich nach oben zogen.
Nach dem Tischgebet sagte der Hohe Rabbi zu ihm: »Kleide dich um und ziehe deine besten Sachen an, wir werden jetzt Reb Meisl aufsuchen.«
Bald darauf gingen sie durch die Judenstadt in Richtung Altschultor, der Rabbi in seinem vornehmen schwarzen Seidenmantel und dem schwarzen Hut, der Junge in der neuen Hose und der neuen Jacke, die Tante Perl für ihn beim Schneider hatte anfertigen lassen, da die hohen Feiertage nicht mehr weit waren und er für das Neujahrsfest* neue Kleidung brauchte. In der Hand hielt er den Tallitbeutel Reb Meisls, den Schimon auf Geheiß des Hohen Rabbis vom Dreibrunnenplatz geholt hatte.
M ein Onkel und ich gingen schweigend nebeneinanderher durch die Judenstadt, deren Gassen wie ausgestorben vor uns lagen, es war, als hätten sich die Menschen in ihrer Angst und in ihrem Erschrecken verkrochen und fürchteten nun, herauszukommen und einander ins Gesicht zu schauen. Denn es war nicht nur Angst, die sie empfanden, es war auch Scham, die sie gefangen hielt, das wusste ich, Scham darüber, dass andere Menschen so etwas mit ihnen tun durften, ohne dass sie sich wehren konnten.
Es war die gleiche hilflose Scham, die ich damals empfunden hatte, als die Christenjungen mich überfallen hatten. Eine Scham, in die sich Zorn mischte. Und auch Neid auf die
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