Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Golem stiller Bruder

Golem stiller Bruder

Titel: Golem stiller Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
Vom Netzwerk:
und er sah, dass die Kiste mit blinkenden Goldstücken gefüllt war. Er versteckte die Goldstücke und sagte keinem Menschen etwas davon, denn er glaubte, der Bauer würde irgendwann zurückkommen. Er hielt es für Unrecht, einen Schatz sein Eigen zu nennen, der ihm nur durch die Unwissenheit des eigentlichen Besitzers in die Hände gefallen war.
    Doch der Bauer kam nicht mehr. Nach einigen Jahren ging Mordechaj Meisl zu einem Rabbi und erzählte ihm die Geschichte. Der Rabbi sagte: ›Das war bestimmt der Prophet Elijahu, der dir diese Kiste gebracht hat. Das Gold gehört dir. Aber vergiss nicht die Armen und Bedrängten, damit dein Haus gesegnet sei.‹
    Reb Meisl war nun ein reicher Mann und er wurde immer reicher. Jedes Stück Eisen, das er in die Hand nahm, verwandelte sich in Gold, und jedes Stück Papier, das er berührte, wurde zu einem Schuldschein. Aber er behielt sein gutes Herz und vergaß wirklich nie die Armen und Waisen, er ließ eine neue Synagoge bauen, ein Spital für Arme und Kranke, er ließ die Straßen der Judenstadt pflastern und wurde zum Wohltäter seines Volkes. Und jetzt gute Nacht, Jankel, der Herr behüte deinen Schlaf und lasse dich morgen gesund erwachen.«
    »Er behüte auch den Schlaf Reb Meisls«, sagte Jankel und drehte sich auf die andere Seite.

12. Kapitel
Wie Koppel der Fiedler umkam
    I m Morgengrauen erschienen sie in der Judenstadt, die Schergen des Gerichts, begleitet von Soldaten und Schildwachen, und brachten Erschrecken und Angst mit sich. Der Ruf »Aufmachen! Los, schnell!« pflanzte sich fort, von Haus zu Haus, von Gasse zu Gasse. Anfangs beantworteten sie noch die Fragen nach dem Warum und Weshalb, die die verschreckten Bewohner stellten, wenn sie es überhaupt wagten, etwas zu fragen. Sie sagten: »Wir haben den Auftrag, nach möglichen weiteren Leichen von Christenkindern zu suchen.« Später schoben sie die Frager nur noch wortlos zur Seite und drangen in die Wohnungen ein, rissen Schränke auf, öffneten Truhen, warfen Schubladen auf den Boden, schlitzten Matratzen und Strohsäcke auf.
    Von Haus zu Haus sprang das Erschrecken, von Haus zu Haus sprang die hilflose Angst, und ein Jude nach dem anderen versuchte, sein Morgengebet zu beenden, bevor sie in den Raum eindrangen, in dem er Gott dankte, dass er den Schlaf von seinen Augen und den Schlummer von seinen Lidern genommen hatte. Ein Jude nach dem anderen betete: Es sei dein Wille, Ewiger, mein Gott und Gott meiner Väter, dass du mich heute und jeden Tag rettest vor frechen Menschen und vor Frechheit, vor einem bösen Menschen, einem bösen Freund und einem bösen Nachbarn, vor bösem Geschehen und vor dem verderblichen Satan, vor einem harten Rechtsspruch und vor einem harten Gegner, sei er Jude oder Nichtjude.
    Der Hohe Rabbi Löw, Schimon und Jankel hörten, wie unten mit Fäusten und Stöcken an die Haustür geschlagen wurde, sie hörten, wie Jente aufmachte und wie die Schergen ins Haus polterten. Der Rabbi übersprang ein paar Psalmen, um schneller zum Ende zu kommen. Als er seine Tefillin und den Tallit zusammenlegte und in den Beutel schob, sagte er: »Beeilt euch, sie sollen sich nicht die Mäuler zerreißen über die Gegenstände, die uns heilig sind.«
    Sie hatten ihre Tallitbeutel kaum geschlossen, da stürmten sie auch schon ins Studierzimmer, die Gerichtsdiener und die Soldaten. Sie rissen die Bücher von den Borden, kippten den Inhalt der Kommodenschubladen aus und zerschlugen die Bank unter dem Fenster, auf der Schimon geschlafen hatte. Jankel spürte, wie ihm das Blut aus dem Kopf wich und in die Beine sackte, die plötzlich sehr schwer wurden. Schimon trat einen Schritt zurück, sein rundlicher Körper bebte, seine Hand tastete auf der Suche nach Halt über die Wand. Der Hohe Rabbi Löw stand da, hoch aufgerichtet, die Hände an die Brust gelegt. Sein Gesicht mit den zusammengepressten Lippen war weiß, nur die zitternden Augenlider verrieten seine unterdrückte Erregung. Jankel schob sich näher zu ihm.
    I ch hatte schreckliche Angst. Sie stürzten sich auf die unbelebten Gegenstände, als wären sie lebendige Feinde, als wären sie Menschen, die es zu vernichten galt. Uns hingegen behandelten sie wie unbelebte Gegenstände, nicht wie Menschen, sie sahen uns gar nicht an, wir waren Luft für sie. Ich glaube, es war diese Missachtung, die mich mehr erschreckte als ihr grober Umgang mit den Büchern. Zu mindest ist es in meiner Erinnerung so. Ich weiß noch, dass ich mich an meinen Onkel

Weitere Kostenlose Bücher