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Golem stiller Bruder

Golem stiller Bruder

Titel: Golem stiller Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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Täter, weil sie stärker und mächtiger waren als ich. Es war ein Neid, gegen den ich immer wieder ankämpfen musste, denn es steht geschrieben: Sei nicht neidisch auf böse Menschen, und wünsche nicht, bei ihnen zu sein, denn ihr Herz trachtet nach Gewalt und ihre Lippen raten zum Unglück. Doch wenn ich die Wahl gehabt hätte, das wusste ich insgeheim schon, wäre ich lieber der Jäger gewesen als das Wild, lieber der Löwe als das Lamm, lieber ein Täter als ein Opfer.
    S ie hatten die Judenstadt hinter sich gelassen. In der Stadt der Christen herrschte reges Leben, Kutschen fuhren vorbei, Händler priesen ihre Waren an, es wurde geredet, geschimpft, gefeilscht, gelacht.
    »Hier ist alles wie immer«, sagte Jankel. »Die Menschen verhalten sich, als wäre nichts geschehen, als wäre es ein gewöhnlicher Tag. Sie wissen offenbar gar nicht, was heute Morgen in der Judenstadt vorgefallen ist.«
    Der Rabbi antwortete nicht, und Jankel, der glaubte, er habe ihn nicht verstanden, sagte noch einmal: »Sie wissen es nicht.«
    »Ja, sie wissen es nicht«, antwortete der Rabbi. »Sie wollen es nicht wissen. Sie wissen es nur deshalb nicht, weil sie es nicht wissen wollen.«
    Schweigend, in Gedanken versunken, gingen sie weiter. Dann sprach Jankel aus, was er dachte: »Wenn die Gefahr so groß ist und immer größer wird, warum fliehen wir dann nicht, bevor das Unheil geschieht, vor dem wir uns fürchten? Warum verhalten wir uns so geduldig wie Lämmer, die zur Schlachtbank geführt werden?«
    Der Rabbi blieb stehen, blickte ihn erstaunt an. »Und wohin willst du fliehen?«, fragte er.
    »Irgendwohin«, sagte Jankel, »an einen Ort, der mehr Sicherheit bietet.«
    Der Rabbi schüttelte traurig den Kopf. »Sicherheit gibt es nur bei dem, der Himmel und Erde gemacht hat. Glaube mir, Jankel, uns Juden hilft kein Weglaufen, denn niemand will uns aufnehmen, unser Schicksal liegt hier, verstehst du? In Prag haben wir das Ansiedlungsrecht, den Geleitbrief, der es uns erlaubt, hier zu leben, und außerdem noch etliche Privilegien, die den Juden anderenorts nicht gewährt werden, so dürfen wir uns etwa unseren eigenen Ältestenrat wählen. Kaiser Rudolf hat diese Privilegien vor ein paar Jahren ausdrücklich bestätigt. Nein, Jankel, weglaufen hilft nichts. Glaube mir, es ist besser, wir bleiben hier und vertrauen auf die Hilfe des Ewigen, gelobt sei er, und beten, dass er uns aus den Händen unserer Feinde errettet.«
    Jankel stieß einen tiefen Seufzer aus. »Wenn ich jetzt meine Tante Schejndl wäre, würde ich sagen: Es ist schwer, ein Jude zu sein.«
    Der Rabbi lächelte. »Deine Tante Schejndl ist eine kluge Frau«, sagte er.
    Sie gingen weiter. Die hohe, mächtige Gestalt Rabbi Löws zog immer wieder neugierige Blicke auf sich, und Jankel fiel auf, dass oft Leute stehen blieben und sich nach dem würdevollen, weißbärtigen Juden im schwarzen Seidenmantel und dem schmächtigen Jungen an seiner Seite umschauten.
    Nach ein paar Schritten sagte Jankel: »Das mit dem Ansiedlungsrecht verstehe ich ja, auch mein Vater sagt immer wieder, wie wichtig das ist. Aber es gibt doch noch andere Arten, sein Leben zu gestalten. Es gibt auch Juden, die von einem Ort zum anderen ziehen, zum Beispiel Geschichtenerzähler.«
    Der Rabbi nickte. »Ja, Geschichtenerzähler tun das.«
    »Und Gaukler.«
    »Ja, Gaukler auch.«
    »Und Musikanten«, sagte Jankel.
    Der Rabbi sagte: »Ja, auch Musikanten. Es gibt sogar fahrende jüdische Ärzte.«
    »Davon habe ich gehört«, sagte Jankel.
    Nach einer Weile fragte der Rabbi plötzlich: »Weißt du eigentlich etwas von deiner Großmutter Rosa, ihr Andenken gereiche uns zum Segen?«
    »Nein«, sagte Jankel. »Sie ist vor meiner Geburt gestorben, ich habe sie nicht kennengelernt und Tante Schejndl hat nie von ihr gesprochen.«
    Die Stimme des Rabbis klang ungewöhnlich zögernd und unsicher, als er weitersprach: »Rosa war meine Lieblingsschwester. Keine der Töchter Israels war anmutiger als sie, sie war, wie es im Lied der Lieder geschrieben steht: Siehe, meine Freundin, du bist schön; schön bist du, deine Augen sind wie Taubenaugen. Aber sie war auch leichtsinnig und leichtfüßig, und als unser Vater sie mit dem Sohn eines großen Gelehrten verheiraten wollte, lief sie mit einem fahrenden Arzt davon.«
    »Das wusste ich nicht«, sagte Jankel erstaunt, »das hat mir keiner erzählt.«
    »Ich habe sie nie mehr wiedergesehen. Ich habe gehört, dass sie ihn geheiratet hat, dass ihnen zwei Töchter geboren

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