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Golem stiller Bruder

Golem stiller Bruder

Titel: Golem stiller Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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wurden und dass ihr Mann sehr früh starb. Als ich davon erfuhr, schrieb ich ihr einen Brief und bot ihr an, zu mir nach Prag zu kommen und in meinem Haus zu leben, doch sie hat nie geantwortet. Sie war wohl zu stolz, um meine Hilfe anzunehmen, sie hat ihre Töchter allein aufgezogen. Aber immerhin hat sie ihrer Tochter Schejndl von mir erzählt.« Er schwieg, erst nach einer ganzen Weile sprach er weiter: »Ich hatte nicht mehr damit gerechnet, euch kennenzulernen, deshalb war ich so überrascht, als ihr plötzlich bei mir auftauchtet. Deine kleine Schwester sieht Rosa ähnlich, sie ist schön und ihre Augen sind wie Taubenaugen. Du musst gut auf sie aufpassen, Jankel, hörst du? Vielleicht hat sie ja nicht nur das Aussehen ihrer Großmutter geerbt, sondern auch ihren Leichtsinn.«
    Jankel nickte, aber es war eher ein Zeichen des Gehorsams als der Einsicht, denn irgendwie konnte er nichts Schlechtes daran finden, dass seine Großmutter mit dem Mann weggelaufen war, der ihr besser gefiel als der Sohn des Gelehrten, den ihr Vater für sie bestimmt hatte.
    »Es ist gut, dass deine Schwester bei Frume ist«, sagte der Rabbi. »Frume ist eine sorgsame, liebevolle Mutter, und Jizchak ist zwar hitzig, aber nicht wirklich streng. Ich kenne kaum einen Mann, dem seine Kinder so viel bedeuten wie ihm.«
    Jankel wusste nicht, was er darauf antworten sollte, aber das war auch nicht nötig. Sie bogen um eine Ecke, dann blieb der Hohe Rabbi vor einem großen, mächtigen Gebäude stehen. »Wir sind da«, sagte er.
    Vor dem Gericht waren uniformierte Soldaten postiert, mit gezogenen Degen in den Händen. Der Rabbi ging auf den ersten zu, blieb aufrecht und stolz vor ihm stehen und sagte ihm, wer er war und zu wem er wollte und dass Graf Černý die Erlaubnis zum Besuch des Gefangenen Reb Mordechaj Meisl erteilt hatte.
    Der Soldat ließ den Kerkermeister rufen, einen großen, dicken Mann mit dichtem, schwarzem Schnurrbart und einem Schlüsselbund am Gürtel, und gab ihm den Befehl, den Rabbi und den Jungen zur Zelle des Juden Meisl zu führen. »Eine Stunde«, sagte er, »nicht länger.«
    Der Mann ging ihnen voraus, er führte sie durch eine große Halle, eine Treppe hinunter und durch einen langen Gang. Bei jedem seiner Schritte rasselten die Schlüssel unheilverkündend und bedrohlich.
    Schließlich blieb er vor einer Tür stehen und schloss sie auf. »Eine Stunde, nicht länger«, sagte er und fügte mit einem Grinsen hinzu: »Das wird doch wohl reichen, um eine Judenseele mit ihrem Gott zu versöhnen.« Mit einer groben Bewegung stieß er den Rabbi und Jankel hinein, und sie hörten, wie er die Tür hinter ihnen zuschloss.
    Die Zelle war dunkel, nur durch ein winziges, vergittertes Fenster weit oben, fast an der Decke, fiel ein wenig Licht herein, und es stank so sehr, dass Jankel unwillkürlich nur noch flach atmete. Erst als sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, sahen sie Reb Meisl, der auf einer Pritsche saß, die, obwohl sie nur schmal war, fast den ganzen Raum ausfüllte, so klein war er. Neben der Pritsche, am Fußende, stand ein Eimer, in den der Gefangene seine Notdurft verrichten konnte. Dieser Eimer war wohl die Ursache des schrecklichen Gestanks.
    Reb Meisl erhob sich und streckte dem Rabbi die Hände entgegen, und Jankel sah, dass er immer noch Fesseln um die Knöchel trug, sodass er sich nur mühsam bewegen konnte. »Löw, du glaubst doch nicht, dass ich so etwas getan habe?«, fragte er mit zitternder Stimme.
    Der Rabbi ergriff seine Hände. »Ich weiß, dass du das nicht getan hast, Mordechaj. Wir wissen alle, dass du unschuldig bist, und beten für deine Errettung. Wie Bildad von Schuach, einer der drei Freunde Hiobs, sagte: Siehe, Gott verwirft die Frommen nicht und hält die Hand der Boshaften nicht fest, bis er deinen Mund voll Lachen mache und deine Lippen voll Jauchzen. Die dich aber hassen, müssen sich in Schmach kleiden und die Hütte der Gottlosen wird nicht bestehen .«
    Die beiden Männer umarmten sich, aus den Augen des Gefangenen strömten Tränen. »Es ist, wie Hiob gesagt hat«, sagte er. » Ausgelöscht sei der Tag, an dem ich geboren bin. Denn das, was ich gefürchtet habe, ist über mich gekommen, und wovor mir graute, hat mich getroffen .«
    Jankel reichte ihm den Tallitbeutel, und Reb Meisl küsste ihn, bevor er ihn unter die rohe, schmutzige Pferdedecke schob, mit der sein Lager bedeckt war. Dann drehte er sich um. »Setzt euch«, sagte er mit einer einladenden Handbewegung zur

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