GOLIATH - Die Stunde der Wahrheit
wenigstens dazu bringen, sie manchmal zu vergessen.
Als die Leviathan langsamer wurde und schließlich zum Halt kam, konnte man auch den Grund des Cañons sehen. Wenn man von den paar Mechanistenmotoren absah, waren diese Rebellen eindeutig Darwinisten. Man sah Felder mit bunten Getreideschöpfungen, und hinter einer hohen Steinmauer war eine Herde von Bullenschöpfungen eingesperrt, die so riesig waren wie Straßenbahnwaggons. Sechsbeinige Esel schleppten Lasten die steilen Pfade hinunter in den Cañon, und zwei tintenfischartige Flugtiere grasten oben auf den Steilhängen, wobei ihre trägen Tentakel Gras und Kakteen abmähten.
Doch auf einem hohen Felsvorsprung in einer Meile Entfernung gab es ein weiteres Stück Mechanistentechnik zu sehen – einen Funkturm.
»So hat Hearst also alles vorbereitet.«
Miss Rogers schnalzte mit der Zunge. »Hat mir nicht irgendwer gesagt, dass Ihr Mr. Tesla der Funkzauberer ist?«
»Aye, aber er würde wohl kaum Waffen schmuggeln. Er redet unablässig vom Frieden.«
»Aber sein Goliath ist eine Waffe, oder?«
Deryn gab sich keine Mühe, das zu leugnen.
Die Leviathan drehte sich in den Wind, und die Zilien brachten sie abwärts. Die Mantaschiffe hielten sich in höflichem Abstand, und dennoch fragte sich Deryn, ob sie verborgene Feuerwaffen an Bord hatten. Falls die Mexikaner Mechanistenmotoren importierten, könnten sie sich ja auch ein paar Raketen geleistet haben. Die Kampffalken der Leviathan schwärmten weiter durch die Luft und waren bereit, jederzeit einen Feind anzugreifen.
Bald ragten zu beiden Seiten die Wände des Cañons auf, und Deryn fühlte sich, als säße sie in der Falle. Es war eigenartig, auf dem Rückgrat zu stehen und gleichzeitig Wände neben sich zu haben. Falls es ein Hinterhalt war, gab es nur einen Fluchtweg: aufwärts.
Die Nase des Flugtiers bewegte sich langsam in Richtung Mast, und eine Gruppe Takler stand an der Ankerarmbrust. Ein Haken wurde in die Armbrust eingelegt.
»Achtung …«, rief Deryn, während der Mast näher kam. »Feuer!«
Die Armbrust schnappte und schickte den Haken in die Luft. Begleitet vom Rasseln der Metallkette verfingen sich die Zinken des Dreghakens in den Verstrebungen des Mastes.
»Zieht sie uns ran!«, rief Deryn, und die Takler zogen die Taue straff und sorgten dafür, dass der Haken festsaß. »Jetzt die Leinen festmachen!«
Bald war das Schiff gesichert, und von den Cañonwänden hallten die Geräusche wider, die beim Herablassen der Taue aus der Gondel unten entstanden. Der Kapitän ließ das Schiff sicherlich mit den Winden nach unten ziehen, anstatt Wasserstoff abzulassen. Dadurch blieb die Leviathan steigfähig und lag wie ein Korken auf dem Boden einer Badewanne, bereit, jederzeit bei Gefahr in die Höhe aufzusteigen.
Deryn ließ den Blick über den Felsboden unten schweifen. Die Männer, die die Seile der Leviathan hielten, trugen Gewehre über den Rücken geschlungen, aber schwerere Waffen waren kaum zu sehen, wenn man von einem halben Dutzend Kanonen am Eingang zum Cañon absah. Die zeigten jedoch alle in die vom Luftschiff abgewandte Richtung und wirkten wie Überbleibsel aus einem längst vergangenen Krieg.
»Wen wundert es, wenn Ihr Boss General Villa unterstützen will«, sagte Deryn und nahm den Feldstecher herunter. »Der General hat jede Menge Tierchen, aber keine anständigen Waffen.«
»Ich habe gehört, wie der Chef genau das Gleiche gesagt hat.« Miss Rogers seufzte. »Ich wünschte, er hätte mir nur anvertraut, was er vorhat.«
»Aye, und uns hätte er es auch sagen können.«
Die Bodenmannschaft zog die Seile in alle Richtungen auseinander. Deryn entdeckte Newkirk, der auf Gleitflügeln nach unten flog, um ihnen zu helfen. Kurz darauf fuchtelte der Junge wild mit den Armen und versuchte, Villas Männer zu ordnen.
»Sprechen Sie eigentlich Spanisch, Miss Rogers?«
»So viel wie jedes Mädchen in Südkalifornien. Also mehr als wenig und weniger, als ich mir wünschte.«
Deryn nickte. »Vielleicht sind Sie die Einzige an Bord, die überhaupt Spanisch spricht. Halten Sie sich bereit.«
»So gern ich meine reflexiven Verben üben würde, Mr. Sharp, wird das nicht notwendig sein. Ich bin sicher, die Filmverträge von General Villa sind in Englisch verfasst.«
»Seine was ?«
»Habe ich das gar nicht erwähnt? Daher kennt Mr. Hearst ihn ja. Sie sind beide im Filmgeschäft!« Miss Rogers umfasste das Lager. »Auf die Art und Weise finanziert sich Villa. Er macht Filme von seinen
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