Goliath: Roman (German Edition)
College, Pennsylvania, USA
Der Hauptcampus der Pennsylvania State University und das benachbarte Städtchen State College liegen im Nittany-Tal, einer idyllischen, sanft hügeligen Landschaft mit kleinen Orten, Touristenmärkten und Milchbetrieben, umschlossen von den Bergen im Zentrum Pennsylvanias. Der Name Nittany ist indianischen Ursprungs und bedeutet »Schutzwall gegen die Elemente«. Der Sage nach bezieht er sich auf eine Prinzessin namens Nitani, die ihr Volk in das schützende Tal geführt haben soll. Nach ihrem Tod, heißt es, sei Mount Nittany aus der Erde gestiegen, um ihr Grab zu kennzeichnen.
Gunnar Wolfe stellt den hellgrünen Traktor ab und blickt auf die Bergkette, die sich am fernen nordöstlichen Horizont ausbreitet. Die schwindende Nachmittagssonne taucht die Hänge in warmes Rot.
Wolfe schließt die Augen und atmet tief die berauschend duftende Luft ein.
Die Ruhe der Berge besänftigt Gunnars Gemüt wie früher einmal das Meer, lange bevor es zum Schlachtfeld wurde. Er beugt sich vor, legt das Kinn auf die gekreuzten Arme und blickt auf den Horizont. Unversehens erscheint ihm die Bergkette wie eine Reihe gewaltiger Wogen, die drohen, mit ihrer tobenden Gewalt alles Leben im Tal auszulöschen, ein Sinnbild dafür, wie gefährdet seine geistige Gesundheit in den vergangenen sieben Jahren, vier Monaten, zehn Tagen und vierzehn Stunden gewesen ist.
Auf dieser Farm ist er aufgewachsen, als seine Familie noch vierzig Hektar Land ihr Eigen nannte. Damals hat er mit seinen Cousins die Kühe, sechzig reinrassige Schwarzbunte, von Hand gemolken, jedes Tier zweimal am Tag. Im Rückblick kommt es ihm vor, als sei das Leben damals, lange bevor sein Vater Melkmaschinen angeschafft hat, einfacher und glücklicher gewesen. Etwa zur selben Zeit ist seine Mutter ums Leben gekommen. Gunnar schließt die Augen und zählt diesmal die Jahre, die vergangen sind, seit ein betrunkener junger Student sie überfahren hat, als sie am Straßenrand von der Kirche nach Hause ging.
Zwanzig Jahre, drei Monate, sechzehn Tage, zwei Stunden …
In den langen Jahren seiner Gefängnishaft hatte er sich an das Gesicht seiner Mutter nicht mehr erinnern können, aber als er auf die Farm zurückgekehrt war, lebte auch die Erinnerung schlagartig wieder auf.
Der kalte Winterwind vertreibt die Auspuffgase des Traktors. Er führt den kräftigen Geruch von Dung mit sich, aber auch schon die leise Vorahnung des Frühlings. Wie immer um diese Zeit stehen am Rand der Landstraßen Tausende von Wohnmobilen. Sie gehören ehemaligen Studenten der Universität, die zu dem traditionellen Footballwochenende der Nittany Lions angereist sind. In den nächsten zwei Tagen werden sie die verschlafene Universitätsstadt überfluten, Restaurants und Kneipen belagern und über die College und die Beaver Avenue flanieren, um die besten Jahre ihrer Jugend wieder aufleben zu lassen – eine Zeit, in der sie sich noch zum Spaß besoffen haben und nicht deswegen weil sie den Frust des Alltags vergessen wollten.
Wenn Gunnar an State College denkt, überkommt ihn ein behagliches Gefühl, als sitze er an einem kalten Wintertag vor dem offenen Kamin, eine Steppdecke um die Schultern. Er fühlt sich irgendwie geborgen in der kleinen Stadt. Vielleicht ist es das College selbst, ein Ort des Lernens inmitten eines Bergtals, der gute Erinnerungen vermittelt. Die einzigen Zwänge, die es hier gibt, bestehen darin, für ein Examen zu lernen, oder – wie in Gunnars Fall – auf der elterlichen Farm zu arbeiten und dafür zu sorgen, dass die Jungkühe ihr Futter bekommen.
Vielleicht ist es aber auch einfach nur so, dass dieser Ort so weit wie möglich vom Ozean entfernt ist, von irgendwelchen Elitetruppen und von Rocky Jackson.
Bei dem Gedanken an seine einstige Verlobte steigt Gunnar die Galle in die trockene Kehle. Er lässt den Traktor wieder an, legt den Gang ein und bringt den Pflug in Position.
Noch vier Reihen. Achtundvierzig Minuten, zweitausendachthundertachtzig Sekunden …
Am Ende der ersten Reihe wendet Gunnar und steuert das klapprige Gefährt auf die Scheune zu. Das Getreide, das er im Frühjahr säen muss, wird ausreichen, um die Rinder im nächsten Winter mit Kraftfutter zu versorgen. Jahre, Monate, Stunden, Tage … mit Milchvieh hat man keinen einzigen freien Tag. Jeden Tag steht Gunnar schon in der Morgendämmerung in der Melkkammer und reinigt die Euter der Kühe mit einer Jodlösung, bevor er sie an die Schläuche der Melkanlage anschließt.
Weitere Kostenlose Bücher