Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
geschaffen, doch die einzelnen unternehmerischen Zellen innerhalb dieses Systems konnten und wollten jetzt nicht länger unselbständig operieren. Sie waren zur Reife gelangt und drängten nach Entfaltung ihrer Macht, befreit von den Fesseln der Hierarchie. Und so wurde Sandokan Schiavone der neue Führer. In seinem äußerst effizienten System waren sämtliche Schlüsselpositionen mit Mitgliedern seiner Familie besetzt. Sein Bruder Walter war für die militärische Seite, sein Cousin Carmine für Wirtschaft und Finanzen zuständig, sein Cousin Francesco ließ sich zum Bürgermeister von Casal di Principe wählen, und ein weiterer Cousin, Nicola, wurde Finanzreferent. Entscheidende Maßnahmen, um sich vor Ort durchzusetzen, und in jener Phase des Aufstiegs von eminenter Bedeutung. Sandokan festigte seine Macht m den ersten Jahren auch durch eng geknüpfte politische Bindungen. Nach einem Konflikt mit der alten Democrazia Cristiana unterstützten die Clans von Casal di Principe 1992 die liberale Partei, die daraufhin den größten Stimmenzuwachs ihrer Geschichte verzeichnen konnte: mit einem Anstieg von knapp ein auf dreißig Prozent. Alle anderen Spitzenleute des Clans standen jedoch Sandokans absolutem Herrschaftsanspruch feindselig gegenüber. Insbesondere die De Falco, die Carabinieri und Polizisten auf ihrer Seite hatten und über unternehmerische und politische Allianzen verfügten. 1990 fanden mehrere Treffen der casalesischen Clanchefs statt, und zu einem war auch Vincenzo De Falco, Spitzname »‘0 fuggiasco« (der Flüchtling), geladen. Die Bosse wollten ihn aus dem Weg räumen. Er erschien nicht. An seiner Stelle kamen die Carabinieri und verhafteten die ganze Versammlung. 1991 starb Vincenzo De Falco, von Kugeln durchsiebt, in seinem Auto. Die Polizei fand ihn zusammengesackt mit laut aufgedrehter Stereoanlage, die Kassette von Domenico Modugno lief noch. Nach diesem Mord spalteten sich die Familien des casalesischen Verbandes. Auf der einen Seite fanden sich jene Fa mili en zusammen, die Sandokan und Iovine nahestanden: Zagaria, Reccia, Bidognetti und Caterino; auf der anderen Seite das De-Falco-Lager: Qua-drano, La Torre, Luise, Salzillo. Den Tod von »‘0 fuggiasco« rächten die De Falco 1991 mit der Ermordung Mario Iovines im portugiesischen Cascais; er wurde in einer Telefonzelle von Schüssen niedergestreckt. Mit Iovines Tod hatte Sandokan Schiavone freie Bahn. Der Krieg tobte vier Jahre. Vier Jahre lang lieferten sich die mit Schiavone bzw. De Falco verbündeten Familien blutige Schlachten. Es gab unterschiedliche Allianzen, Clans wechselten die Seiten, doch statt das Problem wirklich zu lösen, wurden lediglich Territorien und Macht verteilt. Sandokan stieg zur Symbolfigur des Siegs seines Kartells über die anderen Familien auf. Später dann wurden alle seine Feinde zu Verbündeten. Zement, Drogenhandel und Schutz-geiderpressung, Transportwesen, Müllentsorgung, Handelsund Preismonopole im alle möglichen Waren, das war das unternehmerische Betätigungsfeld der Casalesen Sandokans. Die Zementkonsortien wurden dabei zur entscheidenden Waffe.
Jedes Bauunternehmen benötigt Zement von den Konsortien, und dieser Umstand wurde ausschlaggebend dafür, daß die Clans mit sämtlichen Bauunternehmen ihres Territoriu ms und mit allen möglichen anderen Unternehmen ins Geschäft kamen. Der Preis, zu dem die Konsortien der Clans Zement anboten, erwies sich als Trumpfkarte, wie Carmine Schiavone in den Verhören immer wieder betonte. Denn die Konsortien lieferten nicht nur Zement. Mit ihren Schiffen lieferten sie Waffen an die Länder des Nahen Ostens, gegen die ein Embargo verhängt war. Die auf dieser illegalen Ebene erzielten Gewinne ermöglichten es, den Preis für Waren aus der legalen Wirtschaft zu drücken. Die casalesischen Clans profitierten in allen Bereichen der Baubranche: wenn sie Zement lieferten, Aufträge an Dritte weitergaben und bei großen Geschäften Schmiergelder kassierten. Schmiergelder waren der Ausgangspunkt, denn ohne Schmiergeld hätte keine ihrer kostengünstigen und effizienten Firmen und auch kein anderer Betrieb preiswert und ohne Reibungsverluste wirtschaften können. Der Umsatz der Unternehmen, in denen die Familie Schiavone tätig ist, beläuft sich auf fünf Milliarden Euro. Die Kapitalkraft des Kartells der casalesischen Familien - Immobilien, Landgüter, Aktien, liquide Mittel, Baufirmen, Zucker- und Zementfabriken, Geldverleih zu Wucherzinsen, Drogen- und Waffenhandel -
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