Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
umgebracht. Die Cosa Nostra wahrte gegenüber den Casalesen stets so etwas wie Respekt und Zurückhaltung, aber als diese im Jahr 2002 Raffaele Lubrano erledigten, den Boss von Pignataro Maggiore bei Capua, dessen Mitgliedschaft in der Cosa Nostra von Toto Riina selbst eingefädelt worden war, befürchteten viele den Ausbruch einer Fehde. Ich weiß noch, wie am Tag nach dem tödlichen Anschlag ein Zeitungshändler einem Kunden die Befürchtungen zumurmelte, die ihn plagten:
»Wenn sie anfangen, auch noch die Sizilianer zu bekämpfen, haben wir drei Jahre lang keine Ruhe.«
»Welche Sizilianer? Die Mafiosi?«
»Ja, die Mafiosi.«
»Die sollten vor den Casalesen in die Knie gehen und ihnen einen ablutschen. Nichts weiter, ihnen einen ablutschen und fertig.«
Eine Beschreibung der sizilianischen Mafiosi, die mich sehr erschütterte, gab Carmine Schiavone, Mitglied des Clans der Casalesen und Kronzeuge der Justiz, im Jahr 2005 in einem Interview. Er sprach von der Cosa Nostra als einer Sklavenorganisation der Politiker, die unfähig sei, unternehmerisch zu denken wie die Camorristen aus Caserta. Schiavone zufolge habe sich die Mafia als Gegenstaat etablieren wollen, was einem Geschäftsmann nie in den Sinn käme. Es gebe kein Paradigma Staat/Gegenstaat. Es gebe nur ein Territorium, auf dem Geschäfte getätigt würden: mit, durch oder ohne den Staat:
Wir lebten mit dem Staat. Für uns war der Staat unverzichtbar, und zwar genau der Staat, wie er war; allerdings hatten wir eine vollkommen andere Philosophie als die Sizilianer. Riina kam aus der völligen Isolation, er stammte aus den Bergen, ein Schafhirte eben. Wir hingegen hatten uns von diesen Beschränkungen befreit, wir wollten mit dem Staat leben. Wenn jemand im Staat uns Steine in den Weg legte, suchten wir uns einen anderen, der bereit war, uns Gefälligkeiten zu erweisen. Einem Politiker verweigerten wir unsere Stimme, bei einem Beamten fand sich immer eine Möglichkeit, ihn zu umgehen.
Carmine Schiavone, ein Cousin des Bosses Sandokan, war der erste, der die wirtschaftlichen Machenschaften des casalesischen Clans offenlegte. Als er sich für eine Zusammenarbeit mit der Justiz entschied, fällte seine Tochter Giuseppina ein vernichtendes Urteil über ihn, das womöglich schlimmer war als ein Todesurteil. An einige Zeitungen schrieb sie wutentbrannte Briefe: »Er ist absolut unaufrichtig, ein Lügner, ein Bösewicht und ein Heuchler, er hat sein Scheitern verkauft. Eine Bestie. Er ist nie mein Vater gewesen. Ich weiß nicht einmal, was die Camorra ist.«
Unternehmer. So nennen sich die Camorristen der Provinz Caserta. Unternehmer, weiter nichts. Ein Clan brutaler Betriebswirte, blutrünstiger Manager, Bauunternehmer und Grundbesitzer. Jeder mit einer eigenen bewaffneten Bande, untereinander verbunden durch Geschäftsinteressen in sämtlichen Wirtschaftsbranchen. Die Stärke des casalesischen Kartells lag schon immer in seiner Fähigkeit, riesige Mengen
Drogen umzuschlagen, ohne einen Binnenmarkt beliefern zu müssen. Ihr Drogenumschlagplatz ist Rom, weitaus bedeutsamer aber ist inzwischen ihre Mittlerfunktion im Drogengroßhandel. In den Akten der Antimafia-Kommission 2006 heißt es, die Casalesen hätten die palermitanischen Familien mit Drogen beliefert. Durch den Zusammenschluß mit nigerianischen und albanischen Clans gelang es ihnen, sich aus dem Detailabsatz der Drogen zurückzuziehen. Die Absprachen mit den nigerianischen Clans von Lagos und Benin City, die Bündnisse mit den Mafiafa mili en von Pristina und Tirana, die Übereinkünfte mit den ukrainischen Mafiosi von Lemberg und Kiew entbanden die casalesischen Clans von der Notwendigkeit krimineller Aktivitäten auf der untersten Ebene. Gleichzeitig bekamen sie die Möglichkeit, in osteuropäischen Ländern günstig zu investieren, und konnten bei den internationalen Schmugglern mit Stützpunkten in Nigeria Kokain zu einem guten Preis einkaufen. Der Wechsel an der Spitze, die neuen Kriege, all das geschah nach dem Ende des Bardellino-Clans, der wirtschaftlichen Keimzelle der Camorra in dieser Gegend. Nachdem Antonio Bardellino in sämtlichen legalen und illegalen Sparten vom Drogenhandel bis zur Baubranche die unbestrittene Führungsrolle erlangt hatte, setzte er sich mit einer neuen Familie nach Santo Domingo ab. Seinen südamerikanischen Kindern gab er dieselben Namen wie denen von San Cipriano - eine einfache und bequeme Art, den Überblick zu behalten. Seine engsten Vertrauten übernahmen im
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