Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
zurücklegen mußte: Marco Polo. Friaul scheint unendlich weit entfernt von Kampanien. Abends um zehn vor acht fuhr ich los und kam am darauffolgenden Morgen um zwanzig nach sieben in Friaul an, nach einer eiskalten Nacht, die mich keinen Augenblick Schlaf finden ließ. Von Pordenone fuhr ich mit dem Bus nach Casarsa, ich stieg aus und ging mit gesenktem Kopf wie jemand, der den Weg kennt und selbst dann ans Ziel findet, wenn er immerzu auf seine Schuhspitzen schaut. Natürlich verlief ich mich. Auf sinnlosen Umwegen gelangte ich dann doch in die Via Valvasone zum Friedhof, wo Pasolini und seine Familie begraben liegen. Linkerhand, gleich hinter dem Eingang, ein Beet mit nackter Erde, in der Mitte zwei kleine weiße Marmorplatten. Ich steuerte darauf zu, es war das Grab: »Pier Paolo Pasolini (1922-1975)«. Daneben das der Mutter. Ich hatte das Gefühl, weniger aliein zu sein, und hier fing ich an, meiner Wut Ausdruck zu verleihen, mit geballten Fäusten, die Nägel ins Fleisch gebohrt. Ich fing an, mein eigenes Ich weiß zu formulieren, das Ich weiß meiner Zeit.
Ich weiß, und ich habe Beweise. Ich kenne das Fundament, auf dem die Wirtschaft ruht, und ich kenne ihren Geruch. Den Geruch von Sieg und Erfolg. Ich weiß, woher das Geld kommt. Ich weiß. Und die Wahrheit, wird sie ausgesprochen, macht keine Gefangenen, denn sie reißt alles mit sich fort und macht aus allem einen Beweis. Gegenbeweise und Beweisaufnahmeverfahren sind überflüssig. Die Wahrheit registriert, vergleicht, sieht hin, hört hin. Sie fällt keinen Urteilsspruch, gegen keinen Angeklagten in einem Käfig, und kein Zeuge widerruft seine Aussage. Niemand wird Kronzeuge. Ich weiß, und ich habe Beweise. Ich weiß, daß sich die komplexen Theorien der Wirtschaftslehrbücher letztendlich in ganz materielle Dinge verwandeln, ihre Fraktale mutieren zu Stahl, Zeit und Kontrakten. Ich weiß. Die Beweise sind auf keiner Festplatte gespeichert, die irgendwo vergraben ist. Ich habe keine kompromittierenden Videos, die in unzugänglichen Bergdörfern versteckt sind. Ich besitze keine hektographierten Geheimdienstdokumente. Die Beweise sind unwiderlegbar, denn sie sind parteiisch, gesehen mit eigenen Augen, erzählt mit Worten und gehärtet in Gefühlen, gegen die Kugeln und Knüppel nichts ausrichten können. Ich sehe und höre, ich beobachte und rede, und so lege ich Zeugnis ab - ein unschönes Wort, das um so mehr Gültigkeit besitzt, wenn es demjenigen, der dem Sirenengesang der Macht lauscht, ins Ohr flüstert: »Glaub nicht, was man dir sagt.« Die Wahrheit ist parteiisch. Konnte man sie auf eine objektive Formel reduzieren, dann wäre sie synthetisch. Ich weiß, und ich habe Beweise. Also erzähle ich. Erzähle von dieser Wahrheit.
Wenn ich zu Fuß unterwegs bin, Treppen steige oder im Aufzug fahre, wenn ich mir auf der Fußmatte die Schuhe abstreife und über eine Schwelle trete, spüre ich immer wieder eine Art Beklemmung. Ich muß unwillkürlich daran denken, wie diese Häuser gebaut wurden. Und wenn ich jemanden habe, der mir zuhört, kann ich mich kaum davon abhalten, zu erzählen, wie man Stockwerke und Balkone bis zum Dach hochzieht. Es kommt nicht aus dem Gefühl einer grundsätzlichen Schuld oder einer moralischen Verpflichtung gegenüber denen, die aus dem historischen Gedächtnis getilgt sind. Vielmehr versuche ich, diesen Brechtschen Reflex loszuwerden, der mir geradezu in Fleisch und Blut übergegangen ist: an die Handarbeiter und Fußsoldaten der Geschichte zu denken. An die leeren Essensnäpfe, die zum Sturm auf die Bastille und zuden Verlautbarungen der Girondisten und der Jakobiner geführt haben. Daran muß ich denken. Eine Untugend, die ich mir einfach nicht abgewöhnen kann. Wie wenn man vor einem Vermeer-Gemälde stehend an denjenigen denkt, der die Farben gemischt, die Leinwand gespannt und die Perlenohrringe zusammengefügt hat, statt das Bild zu betrachten. Es ist geradezu krankhaft. Beim Anblick eines Treppenaufgangs denke ich an den Kreislauf des Zements, beim Anblick einer Fensterfront an den Aufbau des Gerüsts. Ich kann nicht so tun, als wäre nichts. Ich sehe nicht bloß die getünchte Wand, ich denke an den Mörtel und die Maurerkelle. Vielleicht hat man, wenn man auf bestimmten Breitengraden geboren ist, zu bestimmten Materialien eine besondere Beziehung. Nicht überall auf der Welt werden die Dinge auf dieselbe Weise wahrgenommen. Ich glaube, daß der Geruch von Erdöl und Benzin in Qatar Bilder von weitläufigen
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