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Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra

Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra

Titel: Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Saviano
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triumphales Imperium eingebracht, die Beschlagnahme seiner Besitztümer, für ihn die größte Niederlage, den Tod. Die Clans erlauben keine Fehler. Als man Sandokan während einer Verhandlung mitteilte, Dante Passarelli sei tot, meinte der Boss nur gelassen: »Er möge ruhen in Frieden.«
    Die Macht der Clans blieb auch weiterhin die Macht des Zements. Die zahllosen Baustellen, das spürte ich instinktiv, begründeten ihre Stärke. Ein paar Jahre lang hatte ich selber im Sommer auf dem Bau gearbeitet. Um Zement mischen zu dürfen, brauchte ich dem Polier nur zu sagen, woher ich stammte, und niemand verweigerte mir den Job. Aus Kampanien kamen die besten, die tüchtigsten, schnellsten und billigsten Bauarbeiter Italiens, die zudem am wenigsten Schwierigkeiten machten. Eine mörderische Arbeit, die ich nie richtig erlernte. Ein Beruf, der nur dann gutes Geld bringt, wenn man alles in die Waagschale wirft, seine Muskelkraft, seine ganze Energie. Arbeiten bei wirklich jedem Wetter, mit der Strickmütze oder in Unterhosen. Erst als ich mich mit Händen und Nase auf den Zement einließ, begann ich zu verstehen, worauf sich die Macht, die wirkliche Macht, gründet.
    Aber erst als Francesco Iacomino starb, begriff ich, wie die Baubranche tatsächlich funktioniert. Er war dreiunddreißig Jahre alt, als man ihn in seiner Arbeitskluft auf dem Straßenpflaster fand, an der Kreuzung Via Quattro Orologi und Via Gabriele D’Annunzio in Ercolano. Er war vom Gerüst gestürzt. Nach dem Unfall machten sich alle aus dem Staub, sogar der Vermessungstechniker. Niemand rief einen Krankenwagen, aus Angst, er könnte dasein, bevor man selbst verschwand. Sie rannten fort, den Schwerverletzten, der Blut aus der Lunge spuckte, ließen sie mitten auf der Straße zurück. Er starb wie zahllose andere, wie jene dreihundert Bauarbeiter, die Jahr für Jahr auf italienischen Baustellen ihr Leben lassen. Die Nachricht von seinem Tod hat sich mir unauslöschlich eingebrannt. Sie entfachte in mir eine Wut, die mich för mli ch zu ersticken drohte und mehr war als nur eine kurz aufflammende Empörung. Ich hätte es am liebsten gemacht wie der Protagonist des Romans La vita agra (Das saure Leben) von Luciano Bianciardi, der nach Mailand fährt, fest entschlossen, das Pirelli-Hochhaus in die Luft zu sprengen, um die achtundvierzig Arbeiter zu rächen, die im Mai 1954 in Ribolla bei einer Bergwerksexplosion ums Leben gekommen waren, im Camorra-Schacht, so genannt wegen der dort herrschenden unmenschlichen Arbeitsbedingungen. Vielleicht, so überlegte ich, sollte auch ich mir ein Gebäude, die Zentrale der Macht, aussuchen und in die Luft sprengen. Aber bevor mich die Schizophrenie des Attentäters ereilen konnte, fiel mir, kaum hatte mein erstickender Wutanfall begonnen, Pasolinis Ich weiß ein und ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Und statt mir ein Gebäude zu suchen, um es in die Luft zu jagen, fuhr ich nach Casarsa an das Grab Pasolinis. Ich fuhr allein, obwohl man besser jemanden mitnimmt, um nicht allzu pathetisch zu werden. Ein paar Freunde, treue Leser, eine Freundin. Aber dickköpfig, wie ich war, fuhr ich allein.
    Casarsa ist ein schönes Plätzchen. Hier kann man sich gut vorstellen, daß jemand sich mit Schreiben durchs Leben schlagen will. Schwer jedoch läßt sich nachvollziehen, daß jemand seinem Dorf im Norden den Rücken kehrt, um immer weiter in den Süden zu gehen, in den tiefsten Kreis der Hölle. Ich suchte Pasolinis Grab nicht auf, um ihm in einem feierlichen Akt die Ehre zu erweisen. Pier Paolo Pasolini. Der dreifaltige Name, wie Caproni sagte. Für mich ist er kein weltlicher Heiliger, kein Christus der Literatur. Mir ging es vielmehr um den Ort. Einen Ort, an dem man noch über die Kraft des Wortes nachdenken konnte, ohne sich schämen zu müssen. Darüber, wie es möglich sein kann, über die Mechanismen der Macht zu schreiben, ohne sich im Allgemeinen, ohne sich in Einzelheiten zu verlieren. Über die Möglichkeit, Namen zu nennen, einen nach dem anderen, ihnen Gesichter zuzuordnen und damit die Verbrechen und die Täter ihrer Anonymität zu entreißen, die Architektur der Gewalt offenzulegen. Über die Möglichkeit, die Triebkräfte des Realen, die Selbstbehauptungskräfte der Macht ans Licht zu holen - ohne Metaphern, ohne Umschreibungen, allein mit dem scharfen Instrument der Schrift.
    Ich nahm den Zug von Neapel nach Pordenone, ein quälend langsamer Zug mit einem Namen, der alles sagt über die Entfernung, die er

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