Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
unter die Achseln / damit sie krank wurden. / Das künstliche Fieber, die angebliche Malaria / von der sie erzitterten und mit den Zähnen klapperten / waren ihr Urteil über die Regierungen und die Geschichte.
Auch Luisas Tränen erschienen mir wie ein Urteil über die Regierung und die Geschichte. Kein Wutausbruch. Keine Verärgerung über eine nicht gewährte Genugtuung. Sie erschienen mir wie ein ergänzendes Kapitel zum Kapital von Karl Marx, wie ein Abschnitt aus Untersuchung über die Ursachen und die Natur des Reichtums der Nationen von Adam Smith, wie eine These aus der Allgemeinen Theorie der Beschäftigung von John Maynard Keynes oder eine Anmerkung zu Max Webers Buch Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Eine hinzugefügte oder eine entnommene Seite. Worte, die aus Vergeßlichkeit nicht niedergeschrieben worden sind oder die überall stehen, nur nicht auf dem Papier. Luisas Weinen war kein Akt der Verzweiflung, sondern eine Analyse. Streng, detailliert, genau und begründet. Ich stellte mir
Pasquale auf der Straße vor, mit den Füßen aufstampfend, wie wenn man sich den Schnee von den Stiefeln tritt. Wie ein Kind, das sich wundert, warum das Leben so weh tun muß. Bis dahin hatte er es geschafft. Er hatte an sich gehalten, seinen Beruf ausgeübt, ihn ausüben wollen. So gut wie kein anderer. Aber in dem Augenblick, als er diesen Anzug sah, die Bewegungen des Körpers in dem Stoff, den er gestreichelt hatte, fühlte er sich allein. Mutterseelenallein. Denn wenn man etwas nur mit seinen eigenen Sinnen und in seinem eigenen Kopf weiß, dann ist es, als ob man es nicht wüßte. Und wenn die eigene Arbeit nur dazu dient, über die Runden zu kommen, zu überleben, nur für sich allein, dann ist dies die schlimmste aller Einsa mk eiten.
Zwei Monate später traf ich Pasquale wieder. Sie ließen ihn Laster fahren. Er transportierte Waren aller Art - legale und illegale - für die Unternehmen der Familie Licciardi aus Secondigliano. So hieß es wenigstens. Der beste Schneider der Welt fuhr die Lkws der Camorra zwischen Secondigliano und dem Gardasee hin und her. Pasquale lud mich zum Essen ein und na hm mich ein Stück in seinem Ungetüm mit. Seine Hände waren rot und die Haut über den Gelenken gerissen. Wie bei allen Fernfahrern, die stundenlang am Steuer sitzen, werden die Hände kalt, und der Kreislauf kommt ins Stocken. Er wirkte nicht zufrieden, diese Arbeit hatte er aus Rache angenommen, aus Rache an seinem Schicksal, als Fußtritt gegen sein Leben. Aber man kann einfach nicht immer alles hinnehmen, auch wenn der radikale Schritt bedeutet, daß man noch schlechter lebt. Beim Essen stand er auf, um einige seiner Kollegen zu begrüßen. Das Portemonnaie hatte er auf dem Tisch liegenlassen. Ich sah, daß ein zusammengefaltetes Stück Zeitungspapier daraus hervorlugte. Ich öffnete es. Es war ein Foto, ein Titelblatt mit der weißgekleideten Angelina Jolie. Der von Pasquale genähte Hosenanzug. Die direkt auf der Haut getragene Jacke. Nur ein Künstler konnte sie so bedecken und gleichzeitig sichtbar machen. Der Stoff mußte den Körper umschmeicheln, seine Umrisse nachzeichnen und sich den Bewegungen anpassen.
Ich bin sicher, daß Pasquale manchmal, wenn er allein ist, vielleicht nach dem Essen, wenn die Kinder vom Spielen ermüdet bäuchlings auf dem Sofa eingeschlafen sind, wenn seine Frau, bevor sie das Geschirr spült, noch mit ihrer Mutter telefoniert, daß er genau in dem Moment sein Portemonnaie herauszieht und das Foto aus der Zeitschrift anschaut. Und ich bin sicher, daß Pasquale beim Anblick dieses Meisterwerks, das er mit seinen eigenen Händen geschaffen hat, glücklich ist. Ein wütendes Glück. Aber das wird niemand je erfahren.
Das System
Das System versorgt den großen internationalen Bekleidungsmarkt, das Universum der italienischen Mode in aller Welt. Jeder Winkel des Globus ist von den Firmen, den Männern und den Produkten des Systems erreicht worden. System, ein Begriff, der hier jedermann geläufig ist, anderswo aber noch entschlüsselt werden muß, ein unverständlicher Hinweis für denjenigen, der mit den Machtmechanismen der kri min ellen Wirtschaft nicht vertraut ist. Den Terminus Camorra dagegen gibt es hier nicht, das klingt nach Polyp. Von Camorra reden Staatsanwälte, Journalisten und Drehbuchschreiber. Darüber können die Beteiligten hier nur lachen, es ist ein zu allgemeiner Begriff, etwas für Wissenschaftler, ein Verweis auf die Geschichte. Wer einem
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