Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra

Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra

Titel: Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Saviano
Vom Netzwerk:
Clan angehört, spricht hier von System: »Ich gehöre zum System von Secondigliano.« Das ist aussagekräftig, denn es geht mehr um einen Apparat als um eine Struktur. Die kriminelle Organisation ist identisch mit der Ökonomie, die Dialektik des Geschäfts ist das Knochengerüst des Clans.
    Das System von Secondigliano beherrschte längst das gesamte Textilgewerbe, das Hinterland von Neapel war das Industriegebiet, das Unternehmenszentrum geworden. Alles, was anderswo wegen der rigiden Tarif Vertragsbestimmungen, der Gesetze, des Marken- und Patentschutzes unmöglich war, konnte man nördlich von Neapel bekommen. In der Peripherie, die sich unter der unternehmerischen Macht der Clans strukturierte, wurden astronomische Summen umgesetzt, unvorstellbar für jedes legale Industriegebiet. Die Clans hatten alle Zweige der Textil-, die Schuh- und die Lederindustrie organisiert und waren in der Lage, Kleider, Jacketts, Schuhe und Hemden herzustellen, die haargenau so aussahen wie die der großen italienischen Modemarken.
    Sie konnten in ihrem Territorium auf hervorragend qualifizierte Arbeitskräfte zurückgreifen, die jahrzehntelang für die Haute Couture tätig gewesen waren, für die wichtigsten Modeschöpfer Italiens und Europas. Diese Leute, die für die großen Namen schwarz gearbeitet hatten, wurden von den Clans übernommen. Nicht nur die Machart war hervorragend, auch die Materialien waren die gleichen, sie wurden direkt auf dem chinesischen Markt gekauft oder von den Modehäusern selbst bei den Auktionen verteilt. Die Clans von Secondigliano produzierten also nicht die klassische Ausschußware, die miserablen Imitationen, die als echt deklarierten Nachahmungen. Vielmehr eine Art echte Fälschung. Dem Produkt fehlte nur der letzte Schritt, die Autorisierung durch das Mutterhaus, die Marke, aber diese Autorisierung nahmen sich die Clans einfach, ohne zu fragen. Die Kunden auf der ganzen Welt interessierten sich ohnehin in erster Linie für die Qualität und das Modell. Die Marke war vorhanden, die Qualität auch. Kein Unterschied also. Die Clans aus Secondigliano hatten ein weltumspannendes Vertriebsnetz aufgebaut, sie waren in der Lage, ganze Ketten von Geschäften aufzukaufen und auf diese Weise den internationalen Modemarkt zu beherrschen. Ihre Organisation sah auch die Einrichtung von Outlets vor. Die Herstellung von Waren etwas minderer Qualität bediente als weiteren Markt den der afrikanischen Straßenverkäufer. Es gab keinerlei Ausschuß, alles wurde vermarktet. Von der Fabrik bis zum Laden, vom Einzelhandel bis zum Vertrieb waren Hunderte von Firmen und Arbeitern, Tausende von Produzenten und Unternehmern beteiligt, die sich danach drängten, am großen Geschäft der Secondiglianesen zu partizipieren.
    Die oberste Leitung hatte das Direktorium inne. Ich bekam immer wieder diesen Begriff zu hören. Bei jeder Diskussion in der Bar, die sich um irgendein Geschäft oder die üblichen Klagen über den Mangel an Arbeit drehte, hieß es: »Das Direktorium hat es so gewollt«, oder: »Das Direktorium sollte sich mal rühren und die Sache einfach noch größer aufziehen.« Solche Sätze schienen Reden aus napoleonischer Zeit zu entstammen. Die Staatsanwälte der Antimafia-Einheit Neapel hatten diesen Begriff für die ökonomische, finanzielle und operative Struktur aus Unternehmen und Bossen verschiedener Familien der Camorra im Norden von Neapel geprägt. Eine Struktur mit dezidiert ökonomischen Zielsetzungen. Das Direktorium repräsentierte - ähnlich dem Kollegialorgan des französischen Thermidor - die reale Macht der Organisation und nicht in erster Linie ihre Waffenarsenale und Killer.
    Dem Direktorium gehörten die Clans um die Allianz von Secondigliano, ein Kartell verschiedener Familien, an: die Licciardi, Contini, Mallardo, Lo Russo, Bocchetti, Stabile, Pre-stieri, Bosti und auch, autonomer als die anderen, die Sarno und die Di Lauro. Ein Territorium, das Secondigliano, Scam-pia, Piscinola, Chiaiano, Miano, San Pietro a Paterno umfaßt und bis nach Giugliano und Ponticelli reicht. Innerhalb dieses Zusammenschlusses machten sich die Clans zunehmend selbständig und zerstörten damit die organische Struktur der Allianz. Als Hersteller saßen im Direktorium Vertreter verschiedener Firmen wie der Valent, Vip Moda, Vocos, Vitec, die in Casoria, Arzano und Melito Modelle von Valentino, Ferre, Versace und Armani fälschten und sie dann überall auf der Welt vertrieben. Die Ermittlungen des Staatsanwalts

Weitere Kostenlose Bücher