Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
Filippo Beatrice von der Antimafia-Einheit Neapel aus dem Jahr 2004 haben das Wirtschaftsimperium der neapolitanischen Camorra in seinem ganzen Umfang ans Licht gebracht. Ausgangspunkt war ein normalerweise leicht zu übersehendes Detail gewesen. Ein Boss aus Secondigliano war in einem deutschen Modegeschäft in Che mn itz angestellt. Eine merkwürdige Tatsache ganz ungewöhnlich. In Wirklichkeit war er der Besitzer des Ladens, der unter dem Namen eines Strohmannes eingetragen war. Von dieser Spur ausgehend, entdeckten die Ermittler das gesamte Produktions- und Handelsnetz der Secondiglianesen. Die Antimafia-Einheit Neapel konnte durch die Aussagen von Kronzeugen und abgehörte Telefongespräche die Handelsketten der Clans von den Lagern bis zu den Geschäften verfolgen.
Geschäfte der Clans gab es so gut wie überall. In Deutschland unterhielten sie Läden und Lager in Hamburg, Dortmund, Frankfurt und Berlin. In Spanien waren sie präsent am Paseo de la Ermita del Santo 30 in Madrid und auch in Barcelona. In Belgien war es Brüssel, in Portugal Porto und Boa-vista; in Österreich Wien, in Großbritannien besaßen sie ein Geschäft für Jacketts in London, in Irland eines in Dublin, in den Niederlanden eines in Amsterdam. Außerdem bestanden Beziehungen nach Finnland und Dänemark, nach Sarajewo und Belgrad. Jenseits des Atlantiks hatten die Secondiglianesen in Kanada und in den USA investiert und waren bereits in Südamerika angekommen. In Montreal und in Woodbridge, Ontario; über ein riesiges Netz in den Vereinigten Staaten waren in New York, Mia mi Beach, New Jersey und Chicago Millionen von Jeans verkauft worden, der Markt in Florida war fast ganz von den Secondiglianesen beherrscht. Amerikanische Geschäftsinhaber und Eigentümer von Einkaufszentren wollten ausschließlich mit den Vertretern aus Secondigliano verhandeln. Die akzeptablen Preise für Modelle der Haute Couture und der großen Modeschöpfer aus Italien zogen Kunden in ihre Kaufhäuser und Shopping Mails. Die Markenetiketten waren untadelig.
In einer Werkstatt am Rande Neapels wurde eine Druckvorlage für das Gorgonenhaupt von Versace gefunden. Weil man in Secondigliano wußte, daß der amerikanische Textilmarkt von den Produkten des Direktoriums beherrscht war, zogen die jungen Leute scharenweise in die USA, um dort als Handelsvertreter zu arbeiten, angelockt vom Erfolg der Jeans der Firma Vip moda, die in den Geschäften von Texas als Valentino-Jeans auslagen.
Die Geschäftsbeziehungen reichten bis auf die Südhalbkugel der Erde. Im australischen New South Wales war das Moda Italiana Emporio in 28 Ramsay Road, Five Dock, eines der bekanntesten Geschäfte für elegante Kleidung, und auch in Sydney besaßen die Secondiglianesen Niederlassungen und Geschäfte. In Rio de Janeiro und in Säo Paulo beherrschten sie ebenfalls den Textilmarkt. In Kuba wollten sie ein Geschäft für europäische und amerikanische Touristen eröffnen, in Saudi-Arabien und in der Maghreb-Region hatten sie längst investiert. Den Vertrieb organisierten sie über sogenannte Magazine. Dieser Begriff tauchte in den abgehörten Telefongesprächen auf: regelrechte Vertriebszentren für Waren und Menschen. Dort wurden alle Arten von Kleidungsstücken gelagert, und von dort aus verkauften die Vertreter die Waren an die Läden der Clans oder andere Einzelhändler. Diese Methode war schon von den magliari benutzt worden, den fliegenden Händlern, die nach dem Zweiten Weltkrieg von Neapel aus mit prall gefüllten Taschen voller Strümpfe, Hemden und Jak-ken in die halbe Welt ausgeschwärmt waren. Durch die Übertragung dieser Geschäftserfahrung auf einen größeren Maßstab verwandelten sich die fliegenden Händler in regelrechte Handelsvertreter, die überall alles verkaufen: von den Märkten in den Stadtvierteln bis zu den Einkaufszentren, von den Parkplätzen bis zu den Tankstellenshops. Die fähigsten magliari schafften den Sprung zum Verkauf großer Partien von Kleidern an Einzelhändler. Nach den polizeilichen Ermittlungen hatten sich einige Unternehmer auf den Vertrieb von Fälschungen spezialisiert und boten den Vertretern und den magliari logistische Hilfe an. Sie schossen Reise- und Aufenthaltsspesen vor, stellten Kleinlaster und Autos zur Verfügung und kümmerten sich bei Verhaftung oder Beschlagnahme der Ware um einen Rechtsbeistand. Und sie kassierten natürlich die Gewinne. Diese Geschäfte brachten jeder Clan-Familie jährlich etwa 300 Millionen Euro ein.
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