Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
Körper des Jungen, auf dem staubigen Boden ausgestreckt. Und seine jammernde Freundin. Auch die Klagelaute blieben ihr an den Lippen hängen, als erlaubte das Heroin ihrer Stimme nur einen rauhen Singsang.
Ich begriff nicht, warum das Mädchen das tat, aber sie ließ die Trainingshose herunter, kauerte sich über den Kopf ihres Freundes und pißte ihm direkt ins Gesicht. Das Taschentuch blieb auf Lippen und Nase haften. Bald darauf schien er wieder zu sich zu kommen und fuhr sich mit der Hand über Nase und Mund, wie wenn man aus dem Meer kommend das Wasser vom Gesicht wischt. Der von wer weiß welchen Substanzen im Urin des Mädchens wieder zum Leben erweckte Lazarus von Miano stand langsam auf. Ich schwöre, daß ich, wenn mich die Situation nicht völlig überwältigt hätte, lauthals das Wunder gepriesen hätte. Statt dessen marschierte ich auf und ab. Das tue ich immer, wenn ich etwas nicht begreife und nicht weiß, was ich tun soll. Nervös besetze ich den Raum. Dadurch muß ich die Aufmerksamkeit der Visitors auf mich gezogen haben, denn sie kamen auf mich zu und schrien mich an. Anscheinend glaubten sie, ich gehörte zu dem Typ, der den Jungen beinahe getötet hatte. Sie beschimpften mich: »Du, du ... du wolltest ihn umbringen ...«
Sie umringten mich, aber ich brauchte nur ein wenig schneller zu gehen, um sie abzuhängen, doch sie verfolgten mich weiter, hoben vom Boden irgendwelches Zeug auf und warfen es mir nach. Ich hatte nichts getan, doch wenn du kein Junkie bist, bist du für sie ein Dealer. Plötzlich kam ein Laster auf mich zu. Dutzende verließen täglich die Lager. Er hielt direkt vor mir, und ich hörte eine Stimme meinen Namen rufen. Pasquale. Er öffnete mir die Kabinentür und ließ mich einsteigen. Kein Schutzengel, der seinen Schützling rettet, sondern eher zwei Ratten, die, eine am Schwanz der anderen hangend, durch dasselbe Abflußrohr hetzen.
Pasquale schaute mich an mit der Strenge eines Vaters, der alles vorhergesehen hatte. Mit einer Miene, die alles sagt und es nicht nötig hat, in Worten gefaßt zu werden. Ich dagegen starrte auf seine Hände. Sie waren noch röter, rissiger, an den Knöcheln aufgeplatzt und an den Handflächen anämisch weiß. Finger, die mit Samt und Seide der Haute Couture umgegangen sind, gewöhnen sich nur schwer daran, zehn Stunden lang das Lenkrad eines Lasters zu umklammern. Pasquale redete, aber ich war abgelenkt von den Bildern der Visitors. Affen. Nein, weniger als Affen. Versuchskaninchen. Um den Verschnitt von Drogen zu testen, die ganz Europa überschwemmen werden, wobei man nicht riskieren kann, einen umzubringen. Diese Testpersonen sorgen dafür, daß in Rom, in Neapel, in den Abruzzen, Lukanien oder in Bologna niemand zu Tode kommt, daß niemandem Blut aus der Nase und Schaum aus dem Mund tritt. Ein toter Visitor in Secondigliano ist lediglich der x-te arme Hund, bei dem kein Mensch weiterermittelt. Es ist schon viel, wenn sie ihn von der Erde auflesen, sein Gesicht von Erbrochenem und Pisse reinigen und ihn beerdigen. Anderswo würden Analysen angestellt, Untersuchungen und Vermutungen über die Todesursache. Hier nur: Überdosis.
Pasquale fährt mit seinem Laster über die Landstraßen, die das Gebiet nördlich von Neapel durchziehen. Werks- und Lagerhallen, Mülldeponien und überall Haufen von weggeworfenem, verrostetem Zeug. Es riecht nach Fabrikschloten, aber es gibt keine Fabriken. Die Häuser ziehen sich an den Straßen hin, Plätze sind da, wo eine Bar ist. Eine konfuse, komplizierte Wüstenei. Pasquale hatte gemerkt, daß ich ihm nicht zuhörte, und bremste abrupt. Ohne an die Seite zu fahren, nur damit ich mit dem Rücken gegen die Lehne krachte und aufgerüttelt wurde. Dann fixierte er mich und sagte: »In Secondigliano sieht’s nicht gut aus ... >‘a vicchiarella< ist in Spanien, mit dem ganzen Geld. Du darfst dich nicht mehr hier in der Gegend herumtreiben, überall spüre ich die Spannung. Sogar der Teer löst sich schon von den Straßen und macht sich davon ...«
Ich hatte beschlossen, zu verfolgen, was in Secondigliano vor sich gehen würde. Je eindringlicher Pasquale mich warnte, wie gefährlich die Lage sei, desto mehr war ich davon überzeugt, daß ich unbedingt begreifen mußte, wie das Desaster zustande kam. Und begreifen bedeutet, irgendwie beteiligt zu sein. Dazu gab es keine Alternative, und ich glaube, anders kann man die Dinge nicht verstehen. Aus einer Position der Neutralität oder der objektiven Distanz heraus
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