Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
Mittelsmännern zu erwerben, braucht man ein Mitglied oder einen Bündnispartner des Clans als Gewährsmann. Sie wollen genau wissen, in welcher Gegend man verkaufen und wie der Vertrieb organisiert sein soll. Nicht so das System von Secondigliano. Hier heißt die Parole laissez faire, laissez passer. Freihandel total und absolut. Die Theorie von der Selbstregulierung des Marktes. Damit werden all diejenigen angesprochen, die einen kleinen Handel unter Freunden aufziehen wollen, die für fünfzehn einkaufen und für hundert verkaufen wollen, um sich einen Urlaub zu leisten, einen Master oder einen Kredit zu finanzieren. Die vollkommene Liberalisierung des Drogenmarktes hat die Preise drastisch sinken lassen.
Der Einzelhandel außerhalb bestimmter Umschlagplätze fällt auf diese Weise weg. Heute sind an dessen Stelle die sogenannten Kreise getreten. Der Kreis der Ärzte, der Kreis der Piloten, der Journalisten und der Beamten. Dieses informelle und völlig uneingeschränkte Geschäft mit der Droge wurde paßgenau für das Kleinbürgertum entwickelt. Es sieht aus wie ein kleiner Deal unter Freunden, weit entfernt von kri min ellen Strukturen, und ähnelt dem von Hausfrauen, die ihren Freundinnen Cremes und Staubsauger andrehen. Bestens geeignet auch dafür, von übertriebenen moralischen Skrupeln zu befreien. Kein Pusher im acetatglänzenden Trainingsanzug muß, vom Schmieresteher bewacht, den ganzen Tag an den Ecken der Piazza herumstehen. Nichts außer Ware und Geld, Raum nur für die Dialektik des Geschäfts. Die Daten der wichtigsten Staatsanwaltschaften Italiens zeigen, daß ein Drittel der wegen Drogenhandels Verhafteten nicht vorbestraft ist und mit der organisierten Kriminalität überhaupt nichts zu tun hat. Der Kokainkonsum dagegen hat nach den Angaben der Obersten Gesundheitsbehörde einen Höchststand erreicht und ist allein im Zeitraum von 1999 bis 2002 um achtzig Prozent gestiegen. Die Zahl der Abhängigen, die sich täglich an die Drogenberatungsstelle SERT wenden, verdoppelt sich von Jahr zu Jahr. Der Markt wird immer größer, der genmanipulierte Anbau erlaubt mittlerweile vier Ernten pro Jahr, deshalb gibt es keinerlei Nachschubprobleme für die Rohstoffe, und das Fehlen einer übergeordneten Organisation erleichtert individuelle Initiativen. Robbie Williams, der berühmte kokainsüchtige Sänger, behauptete jahrelang: »Gott hat das Kokain erfunden, um dir zu sagen, daß du zu viel Geld hast.« Dieser Satz, den ich in irgendeiner Zeitschrift gelesen habe, kam mir wieder in den Sinn,, als ich in Case Celesti einige Jungs traf, die ihre Ware und den Ort mit folgenden Worten priesen: »Wenn es das Kokain der Case Celesti gibt, heißt das, daß Gott dem Geld keinerlei Wert gegeben hat.«
Die Case Celesti, die ihren Namen »himmlische Häuser« wegen der einst hellblauen Fassaden tragen, liegen an der Via Limitone d’Arzano und haben sich zu einem der besten Umschlagplätze für Kokain in ganz Europa entwickelt. Das war nicht immer so. Nach den polizeilichen Ermittlungen ist dafür Gennaro Marino McKay verantwortlich. Er ist der Statthalter des Clans in diesem Territorium. Nicht nur der Statthalter; Paolo Di Lauro, der seine Fähigkeiten schätzt, hat ihm das Geschäft in Franchising überlassen. McKay hat völlig freie Hand und muß lediglich am Ende des Monats eine bestimmte Summe in die Kasse des Clans einzahlen. Gennaro und sein Bruder Gaetano heißen die McKays, weil ihr Vater eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem Sheriff Zeb McKay aus der Fernsehserie Die Eroberung des Wilden Westens hatte. Die ganze Familie wird deshalb nicht mehr Marino, sondern McKay genannt. Gaetano hat keine Hände mehr, sondern zwei
Prothesen aus Holz. Sie sind unbeweglich und schwarz lak-kiert. Die Hände hat er 1991 im Kampf verloren. Im Krieg gegen die Puca, eine alte Familie aus dem Umkreis von Raf-faele Cutolo. Eine Handgranate explodierte ihm zwischen den Fingern und riß ihm beide Hände weg. Gaetano McKay hat deshalb immer einen Begleiter bei sich, eine Art Butler, der die Aufgaben der Hände übernimmt, aber wenn Gaetano eine Unterschrift leisten muß, kann er einen in die Prothese geklemmtem Stift wie einen Dorn oder Nagel auf dem Papier fixieren und durch die Bewegung von Arm und Schulter seinen Namen mit nur unmerklich verzerrten Buchstaben schreiben.
Genny McKay hatte, wie die Ermittlungen der AntimafiaEinheit der Staatsanwaltschaft Neapel zeigen, erfolgreich einen Umschlagplatz aufgebaut, wo er in großem
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