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Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra

Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra

Titel: Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Saviano
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Hindernis, sei es Gefühl, Gesetz, Recht, Liebe, Emotion oder Religion, jedes Hindernis ist ein Punkt für die Konkurrenz, ein Stolperstein, der zur Niederlage führen kann. Alles ist möglich, aber der wirtschaftliche Erfolg hat Vorrang, die Überlegenheit muß sicher sein. Ein Rest früheren Respekts führte dazu, daß man den alten Bossen noch Gehör schenkte und ihre Entscheidungen wegen ihres Alters berücksichtigte, auch wenn sie überholte Vorschläge machten und sinnlose Befehle erteilten. Vor allem das Alter konnte den Führungsanspruch der Söhne von Paolo Di Lauro in Gefahr bringen.
    Jetzt dagegen standen alle auf gleicher Augenhöhe: niemand konnte sich mehr auf vergangene Mythen beziehen, auf frühere Erfahrungen und geschuldeten Respekt. Alle mußten sich an ihren Vorschlägen messen lassen, an ihren Führungsqualitäten, an der Macht ihres Charismas. Als die Kampfeinheiten in Secondigliano ihre Muskeln spielen ließen, war die Spaltung noch nicht vollzogen. Doch sie bahnte sich an. Als ersten traf es Ferdinando Bizzarro, »bacchetella« (Stöckchen) oder auch »Onkel Fester« (wie das kahlköpfige, kleine, schleimige Mitglied der Addams Family). Bizzarro war der »Ras« von Melito. Mit diesem Titel werden Männer bezeichnet, die starke, aber nicht vollkommene Autorität besitzen und einem Boss unterstellt bleiben. Bizzarro hatte aufgehört, ein fleißiger Capo für sein Gebiet zu sein. Er wollte selbst über das Geld verfügen. Auch die grundlegenden Entscheidungen wollte er selbst treffen, nicht nur die verwaltungstechnischen. Sein Ziel war keine klassische Revolte, er wollte nur eine neue, eigenständige Rolle spielen. Doch seine Beförderung wurde von niemandem unterstützt. Die Clans in Melito nehmen keine Rücksicht. In den Fabriken der Gegend blüht die Schwarzarbeit, hier werden Schuhe von höchster Qualität für die ganze Welt hergestellt. Diese Fabriken liefern die unverzichtbare Liquidität für den Wucher. Der Besitzer eines solchen Unternehmens unterstützt fast immer einen Politiker oder den Capo eines Clans, der die Wahl eines Politikers garantiert, von dem weniger Kontrollen zu gewärtigen sind. Die Clans der Camorra von Secondigliano waren nie Sklaven der Politiker, haben nie an programmatischen Bündnissen Gefallen gefunden, aber Freunde muß man in dieser Gegend schon haben.
    Und ausgerechnet der Ansprechpartner Bizzarros in den Institutionen wurde zu seinem Todesengel. Um Bizzarro beseitigen zu können, hatte der Clan die Hilfe eines Politikers erbeten: Alfredo Cicala. Nach den Ermittlungen der AntimafiaEinheit Neapel verriet Cicala, der ehemalige Bürgermeister von Melito und örtlicher Parteiführer der »Margherita«, wo Bizzarro aufzuspüren war. Die mitgeschnittenen Telefongespräche machen nicht den Eindruck, daß es um Mord geht, sondern hören sich an, als ginge es einfach nur um das Auswechseln eines leitenden Angestellten. Keinerlei Unterschied. Das Geschäft muß weitergehen, die Entscheidung Bizzarros, sich unabhängig zu machen, barg die Gefahr, die Geschäfte ins Stocken zu bringen. Das mußte mit jedem Mittel, mit aller Macht verhindert werden. Als Bizzarros Mutter starb, wollten die Di Lauro zur Beerdigung erscheinen und schießen, auf alle und alles. Bizzarro, seinen Sohn und seine Cousins aus dem Weg schaffen. Alle. Sie waren bereit. Aber Bizzarro und sein Sohn ließen sich bei der Beerdigung nicht blicken. Doch die Vorbereitungen für ein Attentat liefen weiter. So umfassend, daß der Clan seinen Mitgliedern per Fax mitteilte, was geschah und was zu tun war:
    »In Secondigliano ist niemand mehr übrig, er hat alle verjagt ... er verläßt das Haus nur noch dienstags und samstags mit vier Autos ... Ihr sollt euch auf keinen Fall sehen lassen. Onkel Fester hat wissen lassen, daß er an Ostern zweihundertfünfzig Euro von jedem Geschäft haben will und sich vor nichts und niemandem fürchtet. Nächste Woche muß Siviero gefoltert werden.«
    So wird per Fax eine Strategie ausgearbeitet. Jemanden zu foltern wird auf die Tagesordnung gesetzt, als handele es sich um eine Rechnung, eine Bestellung oder eine Flugbuchung. Wie sich der Verräter verhält, wird allen bekannt gemacht. Bizzarro ließ sich von vier Wagen begleiten und verlangte ein Schutzgeld von zweihundertfünfzig Euro im Monat. Siviero, Bizzarros Vertrauter und Chauffeur sollte gefoltert werden, weil man in Erfahrung bringen wollte, was sein Capo in der nächsten Zeit vorhatte. Aber die Aufzählung der

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