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Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra

Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra

Titel: Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Saviano
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sind echt die Nummer eins, da müssen alle zumachen.«
    Sie jubelten darüber, daß ihre Versuchskaninchen nicht gestorben, sondern im Gegenteil sehr angetan waren von dem Gebotenen. Ein gelungener Verschnitt verdoppelt die Verkaufszahlen, bei höchster Qualität wird er sofort landesweit nachgefragt, so daß die Konkurrenz das Nachsehen hat.
    Erst nachdem ich diesen telefonischen Meinungsaustausch gelesen hatte, verstand ich eine Szene, die ich vor einiger Zeit beobachtet hatte. Damals hatte ich überhaupt nicht begriffen, was sich vor meinen Augen abspielte. In der Gegend von Miano, ganz in der Nähe von Scampia, war ein Dutzend Visitors zusammengerufen worden. Auf den Platz vor einer Fabrikhalle. Ich war nicht aus Zufall dort, sondern um der Realität, ihrem warmen Atem nachzuspüren, denn so, meinte ich, könnte ich den Dingen auf den Grund kommen. Ich bin nicht sicher, ob es wichtig ist, zu beobachten und wirklich dabeizusein, um die Dinge zu kennen, aber es ist wichtig, dabei zu sein, damit die Dinge dich kennen. Dort trat ein gut, ich würde sogar sagen: sehr gut gekleideter Typ auf, in weißem Anzug, blaßblauem Hemd und nagelneuen Sportschuhen. Auf dem Kofferraum seines Autos breitete er ein weiches Tuch aus. Darauf lagen einige Spritzen. Die Visitors näherten sich und drängten einander gegenseitig weg wie bei einer dieser seit Jahren immer gleichen, stets sich wiederholenden Szenen, wenn das Fernsehen zeigt, wie in Afrika von einem Lastwagen aus Mehlsäcke verteilt werden. Einer der Visitors allerdings fing an zu schreien: »Nein, ich nehme das Zeug nicht, wenn ihr es verschenkt, nehme ich es nicht ... Ihr wollt uns umbringen ...«
    Auf den bloßen Verdacht dieses einen hin zogen sich die anderen sofort zurück. Der Typ schien keine Lust zu haben, irgend jemanden zu überzeugen, und blieb stehen. Ab und zu spuckte er den Staub aus, den die Visitors beim Weggehen aufgewirbelt hatten und der sich ihm auf die Zähne gelegt hatte. Einer traute sich trotzdem vor, oder genauer ein Pärchen. Sie zitterten und waren wirklich am Ende. Auf Turkey, wie man sagt. Die Venen in der Armbeuge des jungen Mannes waren nicht mehr zu verwenden, deshalb zog er sich die Schuhe aus, aber auch die Fußsohlen waren schon ruiniert. Das Mädchen nahm die Spritze von dem Tuch und klemmte sie sich zwischen die Lippen, während sie dem Jungen langsam, als hätte es hundert Knöpfe, das Hemd öffnete und dann die Spritze in den Hals stach. In der Spritze war Kokain. In die Blutbahnen gespritzt, läßt sich in kürzester Zeit erkennen, ob der Verschnitt funktioniert oder nicht, ob zu viel oder zu wenig gestreckt ist. Nach kurzer Zeit begann der Junge zu schwanken, Schaum bildete sich in den Mundwinkeln, und er fiel hin. Auf dem Boden bewegte er sich ruckartig, dann blieb er ausgestreckt auf dem Rücken liegen und schloß die Augen, erstarrt. Der Weißgekleidete begann mit seinem Handy zu telefonieren: »Ich glaube, er ist tot ..., ja, ist gut, na, dann massiere ich ihn ...«
    Mit der Stiefelette begann er den Brustkorb des jungen Mannes zu traktieren. Dabei hob er das Knie, stieß das Bein dann nach unten und führte die Herzmassage mit Fußtritten aus. Das Mädchen an seiner Seite begann zu plärren, die Worte schienen ihr an den Lippen kleben zu bleiben: »Du machst es falsch, du tust ihm weh ...«
    Mit ihrem Federgewicht versuchte sie den Typ vom Körper ihres Freundes wegzuschieben. Der aber war abgestoßen, schien sich beinahe zu fürchten vor ihr und den anderen Visitors: »Faß mich nicht an ... du ekelst mich an ... wag ja nicht, mir nahe zu kommen ... faß mich nicht an, sonst knall ich dich ab!«
    Er trat weiter auf den Brustkorb des Jungen ein; dann griff er, mit dem Fuß auf dem Brustbein, wieder zum Handy:
    »Der ist platt. Ach ja, das Taschentuch ... wart, jetzt probier ich’s.«
    Er nahm ein Papiertaschentuch aus der Tasche, goß aus einer Flasche Wasser darüber und breitete es über den Mund des Jungen aus. Wenn der auch nur schwach geatmet hätte, wäre das Kleenex zerrissen, ein Beweis, daß er noch lebte. Eine Vorsichtsmaßnahme, um jeder Berührung mit diesem Körper aus dem Wege zu gehen. Ein letztes Telefonat: »Der ist tot. Wir müssen es weniger stark machen ...«
    Der Typ stieg ins Auto, in dem der Fahrer sich die ganze Zeit auf dem Sitz zu einer Musik verrenkt hatte, von der ich keinen Ton hörte, obwohl sie seinem Gehopse nach voll aufgedreht sein mußte. Fluchtartig entfernten sich alle, zurück blieb der

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