Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
verschlucken. Die Polizei hielt mich an, die Carabinieri, manchmal die Finanzpolizei, dann die Posten der Di Lauro und schließlich die der Spanier. Alle mit dem gleichen anmaßenden Auftreten, den gleichen mechanischen Bewegungen, den gleichen Redewendungen. Die Sicherheitskräfte verlangten meinen Ausweis und durchsuchten mich dann, die Posten der Clans dagegen durchsuchten mich und stellten mir Fragen, achteten auf meinen Akzent und durchleuchteten jede Lüge. In der Hochphase des Konflikts durchsuchten die Posten jeden und schauten in jedes Auto. Um die Gesichter einzuordnen und Bewaffnete auszumachen. Zuerst kamen sie mit Mopeds auf einen zu und wollten alles haarklein wissen, dann wurde man mit Motorrädern oder schließlich mit Autos verfolgt.
Die Fahrer von Krankenwagen beschwerten sich, daß sie aus der Ambulanz aussteigen und sich durchsuchen lassen mußten, bevor sie jemandem Hilfe leisteten, egal, ob es sich um einen bei einem Schußwechsel Verletzten oder um ein altes Mütterchen handelte, das sich das Bein gebrochen oder einen Herzinfarkt erlitten hatte. Eine Wache stieg in den Wagen und kontrollierte, ob es sich wirklich um einen Krankentransport handelte oder ob Waffen, Killer oder flüchtige Personen darin versteckt waren. In den Kriegen der Camorra ist das Rote Kreuz nicht anerkannt, kein Clan hat die Genfer Konvention unterzeichnet. Auch die Streifenwagen der Carabinieri sind gefährdet. Eines Tages wurde der Wagen einer Gruppe von Carabinieri in Zivil beschossen, weil sie mit Mitgliedern eines rivalisierenden Clans verwechselt worden waren, doch es gab nur Verletzte. Einige Tage später meldete sich ein Junge, der offensichtlich genau wußte, was man im Falle einer Verhaftung braucht, mit seinem Übernachtungsgepäck in der Carabi-nieri-Kaserne. Er gestand alles und sofort, vielleicht weil die Bestrafung dafür, daß er auf die Carabinieri geschossen hatte, schlimmer gewesen wäre als die Haftstrafe. Oder, noch wahrscheinlicher: der Clan wollte keinen privaten Haß zwischen Ordnungshütern und Camorristen aufkommen lassen und ermunterte den Jungen mit den notwendigen Versprechungen und der Bezahlung der Anwaltskosten dazu, sich zu stellen. Der Schütze erklärte in der Kaserne ohne Zögern: »Ich dachte, es seien Spanier, und da habe ich geschossen.«
Auch am 7. Dezember riß mich mitten in der Nacht ein An-rufaus dem Schlaf. Ein befreundeter Fotograf machte mich auf die Razzia aufmerksam. Nicht irgendeine Razzia, sondern die Razzia. Die, die die Politiker vor Ort und im ganzen Land als Reaktion auf die Fehde gefordert hatten.
Der Ortsteil Terzo Mondo (Dritte Welt) ist von tausend Polizisten und Carabinieri umzingelt. Der Name dieses riesigen Gebiets sagt alles aus über die Zustände hier, genau wie der Spruch auf einer Mauer am Anfang der Hauptstraße: »Ortsteil Terzo Mondo, nicht betreten!« Die Durchsuchungsaktion wird als großes Medienereignis aufgezogen. Danach werden Scampia, Miano, Piscinola, San Pietro a Paterno und Secondigliano von Journalisten überschwemmt und von Fernsehteams belagert. Nach Jahren des Schweigens gibt es die Camorra wieder. Plötzlich. Aber die Kriterien der Analyse sind veraltet, völlig veraltet, es hat keinerlei durchgängige Beobachtung gegeben. Als ob man ein Gehirn zwanzig Jahre lang eingefroren und nun wieder aufgetaut hätte. Als ob man die Camorra von Raffaele Cutolo vor sich hätte oder die Mafia, die Autobahnen zerbombt und Richter umbringt. Alles ist heute anders, nur nicht der Blick der mehr oder weniger spezialisierten Beobachter. Zu den Verhafteten gehört auch Ciro Di Lauro, einer der Söhne des Bosses. Der Buchhalter des Clans, heißt es. Die Carabinieri brechen Türen auf, durchsuchen alle und halten ihre Waffen auch kleinen Jungen ins Gesicht. Ich erlebe lediglich mit, wie ein Carabiniere auf einen Jungen einbrüllt, der ihn mit einem Messer bedroht.
»Laß es fallen! Laß es fallen! Dalli! Jetzt aber dalli! Laß es sofort fallen!«
Der Junge läßt das Messer fallen. Der Carabiniere kickt es mit einem Fußtritt weg, beim Aufprall gegen eine Fußleiste klappt die Klinge ein. Das Messer ist aus Plastik, eines von den Ninja-Monstern. Währenddessen kontrollieren, fotografieren und durchkä mm en die Polizisten alles. Dutzende von kleinen Festungen werden geschleift, Mauern eingerissen, die in Mietshäusern unter den Treppenhäusern als Versteck dienten, Tore werden aufgebrochen, die ganze Straßenzüge absperrten, damit sie als Drogendepot
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