Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
benutzt werden konnten.
Hunderte von Frauen gehen auf die Straße, zünden Müllcontainer an, schleudern Gegenstände gegen die Streifenpolizisten. Ihre Söhne, Neffen und Nachbarn werden verhaftet. Ihre Arbeitgeber. Und dennoch gelingt es mir nicht, in den Gesichtern und den zornigen Worten dieser Frauen, die in so enganliegenden Hosen stecken, daß sie jeden Moment zu explodieren drohen, nur Solidarität mit dem Verbrechen zu sehen. Der Drogenmarkt ist die Quelle für ihren Lebensunterhalt, für einen äußerst geringen Lebensunterhalt, der größte Teil der Menschen von Secondigliano ist weit davon entfernt, sich daran bereichern zu können. Die Unternehmer der Clans sind die einzigen, die überschießende Gewinne erzielen. Für all die anderen, die nur zuarbeiten, die verkaufen, lagern, verstecken und bewachen, steht ihr Verdienst in keinem Verhältnis dazu, daß sie Verhaftung und Monate, ja Jahre im Gefängnis riskieren. Die Gesichter der Frauen sind wutverzerrt. Von einer Wut, die aus dem Bauch kommt, einer Wut, die den eigenen Lebensraum verteidigt, aber auch diejenigen anklagt, die diesen Ort immer nur als inexistent, als verloren und vernachläs-sigenswert betrachtet haben.
Dieses plötzliche gigantische Aufgebot von Sicherheitskräften, das erst dann eingesetzt wird, als es schon Dutzende Tote und den verkohlten Leichnam eines gefolterten Mädchens aus dem Viertel gegeben hat, wirkt wie eine Inszenierung. Die Frauen hier empfinden es als Hohn. Die Verhaftungen, die Bagger machen nicht den Eindruck, daß sie etwas an den Zuständen ändern werden, sondern nur denen dienen, die Festgenommene und eingerissene Wände vorzeigen wollen. Als ob jemand plötzlich die Deutungsmuster andern und ihnen sagen würde, ihr Leben sei verkehrt. Sie wußten ganz genau, daß hier alles verkehrt war, daran mußten nicht erst Hubschrauber und gepanzerte Fahrzeuge erinnern, doch bis dahin war diese Verkehrtheit ihre elementare Lebensform, die ihnen das Überleben sicherte. Außerdem würde nach dieser Invasion, die alles nur noch komplizierter machte, kein Mensch ernsthaft versuchen, ihr Leben zum Besseren zu wenden. Deshalb waren diese Frauen eifersüchtig darauf bedacht, das Vergessen, das diese Isolation, diese Verkehrtheit ihres Lebens bedeckte, zu bewahren und diejenigen davonzujagen, denen dieser blinde Fleck plötzlich aufgefallen war.
Die Journalisten warteten in den Autos. Sie ließen die Carabinieri erst ihre Arbeit tun und waren deren Stiefeln nicht im Weg, bevor sie sich an die Berichterstattung machten. Am Ende der Operation waren dreiundfünfzig Personen verhaftet, der jüngste Jahrgang 85. Alle waren in der Zeit der »Wiedergeburt Neapels« großgeworden, als die Politik versprochen hatte, das Schicksal der Bewohner dieser Stadt zu verändern. Während sie in die Grüne Minna einsteigen und sich von den Carabinieri die Handschellen anlegen lassen, wissen alle, was sie zu tun haben: diesen oder jenen Anwalt anrufen, darauf warten, daß die Familie am 28. des Monats den Lohn und Ehefrauen und Mütter ihre Pasta-Packungen vom Clan bekommen. Wirklich beunruhigt sind die Männer, die zu Hause halbwüchsige Jungen haben, denn sie wissen nicht, welche Rolle die nach ihrer Verhaftung übernehmen müssen. Darüber aber dürfen sie nichts sagen.
Nach der Razzia geht der Krieg weiter. Am 18. Dezember wird Pasquale Galasso, ein Namensvetter eines der mächtigsten Bosse der neunziger Jahre, hinter dem Tresen einer Bar ermordet. Dann stirbt am 20. Dezember Vincenzo Iorio in einer Pizzeria. Am 24. erschießen sie den vierunddreißigjährigen Giuseppe Pezzella. Er versucht, sich in einer Bar zu verstek-ken, aber sie feuern ein ganzes Magazin auf ihn ab. An Weihnachten herrscht Waffenstille. Die Geschütze schweigen. Die Gegner organisieren sich neu. Man versucht, Ordnung und Strategie in diese völlig anarchische Auseinandersetzung zu bringen. Am 27. Dezember wird Emanuele Leone mit einem Kopfschuß niedergestreckt. Er war einundzwanzig Jahre alt. Am 30. Dezember schlagen die Spanier zurück: sie töten den sechsundzwanzigjährigen Antonio Scafuro und verwunden seinen Sohn am Bein. Die beiden waren mit dem Capo der Di Lauro in Casavatore verwandt.
Die Entwicklung war nur sehr schwer zu verstehen. Zu verstehen, wie es die Di Lauro geschafft hatten, aus diesem Konflikt als Sieger hervorzugehen. Zuschlagen und verschwinden.
In der Menschenmenge untertauchen, von den Häusern verschluckt werden. Lotto T, le Vele, Parco
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