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Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra

Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra

Titel: Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Saviano
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Meerblick versteckt, eine ungewöhnliche Art, diesem Konflikt aus dem Weg zu gehen. Als er verhaftet wurde, fixierte der Butler, der Gaetanos Hände ersetzte, die Polizisten und sagte: »Ihr habt mir den Urlaub ruiniert.«
    Doch die Verhaftung der Spanier konnte das Blutvergießen nicht stoppen. Am 27. November wurde Giuseppe Bencivenga umgebracht. Am 28. wurde Massimo de Felice erschossen, und am 5. Dezember war Enrico Mazzarella an der Reihe.
    Die Spannung wird zu einer Art Wand zwischen den Menschen. Im Krieg darf man nichts unbeachtet lassen, jedes Gesicht, jedes einzelne Gesicht muß dir etwas sagen. Du mußt es entziffern. Du mußt es fixieren. Alles ändert sich. Du mußt wissen, welches Geschäft du betrittst, mußt sicher sein, welches Wort du aussprichst. Wenn du mit jemandem spazierengehst, mußt du wissen, wer er ist. Du mußt dir seiner mehr als sicher sein, auch die leiseste Möglichkeit ausschließen, daß er in dem Konflikt eine Rolle spielen könnte. Neben jemand herzugehen, ihn anzusprechen bedeutet, auf seiner Seite zu stehen. Im Krieg vervielfacht und intensiviert man die Aufmerksamkeit aller Sinne, als ob man schärfer hören, genauer sehen und Gerüche besser wahrnehmen würde. Auch wenn alle Umsicht nichts nützt angesichts der Entschlossenheit zum Massaker. Wer zuschlägt, achtet nicht darauf, wer gerettet werden soll und wer zum Tode verurteilt ist. In einem mitgeschnittenen Telefongespräch wandte sich Rosario Fusco, laut Anklage einer der Capi der Di Lauro, mit besorgter Stimme an seinen Sohn und versuchte überzeugend zu wirken:
    »... Du darfst dich mit niemand blicken lassen, das ist ganz klar, das habe ich dir auch geschrieben: du willst rausgehen, du willst mit deiner Freundin Spazierengehen, meinetwegen, nur darfst du dich mit keinem Jungen sehen lassen, denn wir wissen nicht, auf welcher Seite er steht oder zu wem er gehört. Wenn sie nämlich gegen den was unternehmen, und du bist dabei, dann bist du auch dran. Hast du verstanden, worum es geht ...?«
    Man darf sich nicht einbilden, außerhalb zu stehen. Es reicht nicht zu glauben, die eigene Lebensführung halte einen aus jeder Gefahr heraus. Es gilt nicht mehr, sich zu sagen: »Die bringen sich gegenseitig um.« Bei einer Auseinandersetzung der Camorra gerät alles, was fest gebaut schien, in Gefahr, weggerissen zu werden wie ein Sandwall von der Flutwelle. Die Menschen versuchen, sich unauffällig zu bewegen, sich möglichst wenig draußen sehen zu lassen. Wenig Schminke, unauffällige Farben, aber nicht nur das. Wer an Asthma leidet und nicht rennen kann, schließt sich zu Hause ein, unter einem Vorwand, mit irgendeiner Ausrede, denn sich einfach nur einzuschließen könnte als Schuldbekenntnis ausgelegt werden: auch wenn man sich keiner Schuld bewußt ist, bleibt es doch immer das Eingeständnis von Angst. Die Frauen tragen keine hohen Absätze mehr, man kann damit nicht rennen. Einem nicht offiziell erklärten, von den Regierungen nicht anerkannten und von den Journalisten nicht berichteten Krieg entspricht eine nicht erklärte Angst, eine Angst, die sich unter der Haut einnistet.
    Du fühlst einen inneren Druck wie nach zu üppigem Essen oder zu viel miserablem Wein. Eine Angst, die nicht auf Plakaten und in den Zeitungen herausgeschrien wird. Es marschieren keine Truppen ein, und keine Flugzeuggeschwader verdunkeln den Himmel, den Krieg fühlst du in dir. Wie eine Phobie. Du weißt nicht, ob du deine Angst zeigen oder aber sie verstecken sollst, ob du übertreibst oder die Gefahr unterschätzt. Man hört keine Alar ms irenen, sondern erhält die widersprüchlichsten Informationen. Es heißt, im Krieg der Camorra brächten sich zwei Banden gegenseitig um. Aber niemand weiß, wo die Grenze verläuft zwischen dem, was ihnen gehört, und dem, was ihnen nicht gehört. Die Streifen der Carabinieri, die Polizeikontrollen, die ständig kreisenden Hubschrauber beruhigen nicht, sondern markieren den Kriegsschauplatz. Sie engen den Raum ein, vermitteln keinerlei Sicherheit. Das Feld für den tödlichen Kampf wird nur umschrieben und damit immer kleiner. Man fühlt sich in der Falle, eingepfercht und empfindet die Wärme der anderen als unerträglich.
    Ich fuhr mit meiner Vespa durch diese spannungsgeladene Atmosphäre. Jedesmal, wenn ich während des Krieges nach Secondigliano kam, wurde ich mindestens zehnmal am Tag durchsucht. Wenn ich auch nur im Besitz eines Schweizer Taschenmessers gewesen wäre, hätten sie mich gezwungen, es zu

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