Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
Attentats in Case Celesti erreiche, ist der Leichnam noch nicht mit einem Tuch bedeckt. Die Menschen treten ins Blut und hinterlassen überall Spuren. Ich muß heftig schlucken, um meinen Magen zu beruhigen. Carmela Attrice war nicht geflohen. Man hatte sie gewarnt, sie wußte, daß ihr Sohn auf der Seite der Spanier stand, aber darin besteht die Ungewißheit des Krieges der Camorra. Nichts ist klar und eindeutig. Alles wird erst wahr, sobald es geschieht. In der Dynamik der totalen Macht gibt es nichts, was über das Konkrete hinausgeht. Jede Entscheidung, ob fliehen, bleiben, sich verstecken oder denunzieren, hängt in der Luft, bleibt unsicher, jeder Rat wird durch einen gegenteiligen Rat widerlegt, und erst, wenn etwas Konkretes geschehen ist, kann man eine Entscheidung treffen. Und wenn es geschieht, bleibt keine Wahl.
Wenn man mitten auf der Straße stirbt, herrscht ein grauenhafter Lärm um einen herum. Es ist nicht wahr, daß man einsam stirbt. Unbekannte Gesichter drängen sich nahe heran, fremde Menschen berühren Beine und Arme, um festzustellen, ob der Tod eingetreten ist oder ob es sich lohnt, den Krankenwagen zu holen. Der Gesichtsausdruck von Schwerverletzten und Sterbenden zeigt die gleiche Angst. Und die gleiche Scham. Es mag seltsam erscheinen, aber einen Augenblick vor dem Ende gibt es eine Art Scham. Hier nennen sie das scuorno. Ein bißchen wie Nacktheit in der Öffentlichkeit. Das gleiche Gefühl kommt auf, wenn ein Mensch auf der Straße tödlich getroffen wird. Ich habe mich nie an den Anblick von Ermordeten gewöhnt. Die Notärzte und die Polizisten sind alle ruhig und unerschütterlich, führen ihre auswendig gelernten Bewegungen aus, egal, wen sie vor sich haben. »Wir haben Hornhaut auf dem Herzen, und der Magen ist mit Leder ausgekleidet«, hat mir einmal der blutjunge Fahrer eines Leichenwagens gesagt. Wenn man vor dem Krankenwagen an Ort und Stelle ist, kann man den Blick nur schwer von dem Verwundeten abwenden, auch wenn man ihn lieber nie gesehen hatte. Ich habe nie verstanden, daß man auf diese Weise stirbt. Zum erstenmal in meinem Leben habe ich einen Ermordeten gesehen, als ich dreizehn war. Ich erinnere mich noch genau an jenen Tag. Beim Aufwachen schämte ich mich furchtbar, denn unter dem Pyjama, den ich ohne Unterhose trug, war unverkennbar eine ungewollte Erektion sichtbar. Die typische Morgenerektion, die nicht zu verhei mli chen ist. Daran erinnere ich mich deshalb genau, weil ich an diesem Tag eine Leiche in der gleichen Lage sah. Wir waren zu fünft mit unseren vollgepackten Schulranzen auf dem Weg zur Schule, als wir auf eine von Schüssen durchsiebte Alfetta stießen. Meine Schulkameraden stürzten sich voller Neugier darauf und wollten alles mitkriegen. Über die Kopfstütze ragten die Füße heraus. Der Mutigste unter uns fragte den Carabiniere, wieso da, wo man den Kopf anlehnt, die Füße seien. Der Carabiniere antwortete seelenruhig, als hätte er gar nicht gemerkt, daß er mit einem Kind sprach.
»Der Kugelhagel hat ihn herumgeschleudert.«
Obwohl ich noch klein war, wußte ich, daß er mit Kugelhagel Schüsse mit der Maschinenpistole meinte. Der Camor-rist hatte so viele Schüsse abgekriegt, daß sich sein Körper umgedreht hatte. Kopf nach unten und Füße nach oben. Dann öffneten die Carabinieri die Autotür, die Leiche fiel heraus wie geschmolzenes Eis vom Stiel. Wir schauten ungestört zu, niemand sagte uns, das sei kein Anblick für Kinder. Keine Hand legte sich schützend vor unsere Augen. Der Tote hatte eine Erektion. Durch die enganliegende Jeans deutlich sichtbar. Das brachte mich völlig durcheinander. Ich starrte lange auf die Szene und dachte tagelang darüber nach, wie das hatte geschehen können. Woran hatte der Mann gedacht, was hatte er gemacht, bevor er starb. Ich verbrachte meine Nachmittage mit Überlegungen darüber, was dem Mann vor seinem Tod durch den Kopf gegangen sein mochte, und quälte mich herum, bis ich endlich den Mut fand zu fragen, worauf man mir sagte, daß eine Erektion bei Ermordeten häufig vorkomme. An jenem Morgen begann Linda, ein Mädchen aus unserer Gruppe, zu weinen, als die Leiche aus dem Auto glitt, und steckte auch zwei andere Kinder an. Sie schluchzten. Ein junger Mann in Zivil packte die Leiche bei den Haaren und spuckte ihr ins Gesicht. Zu uns gewandt, sagte er:
»Nicht doch, was soll das Weinen? Das war eine Ratte, es ist nichts passiert, alles ist gut. Nichts ist passiert. Weint nicht ...«
Seitdem vermochte
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