Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
ich Szenen, bei der sich die Spurensicherung mit ihren Handschuhen vorsichtig bewegt, um weder Staub noch Kugeln zu verschieben, einfach nie mehr zu glauben. Wenn ich vor dem Krankenwagen ankomme und die letzten Augenblicke des Lebens eines Menschen miterlebe, fällt mir immer die letzte Szene aus Herz der Finsternis ein, in der eine Frau den in die Heimat zurückgekehrten Marlow fragt, was der Mann, den sie einst geliebt hat, vor seinem Tod gesagt habe. Marlow lügt und behauptet, er habe ihren Namen ausgesprochen, während er in Wirklichkeit kein zärtliches Wort und keinen wertvollen Gedanken geäußert hat. Kurtz hat lediglich gesagt: »Das Grauen! Das Grauen!« Man denkt, die letzten Worte eines Sterbenden seien sein letzter, wichtigster, grundlegender Gedanke, als spräche er beim Sterben aus, wofür es sich zu leben gelohnt hat. Das stimmt nicht. Beim Sterben kommt nichts außer Angst zum Vorschein. Alle oder fast alle wiederholen denselben banalen, einfachen und selbstverständlichen Satz: »Ich will nicht sterben.« Gesichter, die sich für mich immer über das Gesicht von Kurtz gelegt haben, Gesichter, die die Qual, den Abscheu und die Weigerung ausdrücken, auf so gräßliche Weise in der schlechtesten der möglichen Welten zu enden. Im Grauen.
Nachdem ich Dutzende von Ermordeten gesehen habe, die, besudelt von ihrem eigenen, mit Dreck vermischten Blut und abscheulich stinkend, neugierigen oder professionell gleichgültigen Blicken ausgesetzt und wie gefährlicher Unrat gemieden oder von herzzerreißenden Schreien begleitet waren, habe ich nur eine einzige Gewißheit, einen in seiner Einfachheit an Schwachsinn grenzenden Gedanken gewonnen: der Tod ist widerlich.
In Secondigliano wissen kleine Jungs, ja schon Kinder ganz genau, wie man stirbt oder wie man lieber sterben sollte. Als ich den Ort des Attentats auf Carmela Attrice verließ, hörte ich das Gespräch eines kleinen Jungen mit seinem Freund. Der Ton war sehr ernst:
»Ich will sterben wie die Signora. In den Kopf, bum, bum ... und alles ist vorbei.«
»Aber ins Gesicht, sie haben sie ins Gesicht geschossen, ins Gesicht ist schlimm!«
»Nein, gar nicht schlimm, ist eh nur eine Sekunde. Vorne oder hinten, es ist immer der Kopf!«
Ich mischte mich ein, um meine Meinung zu äußern und Fragen zu stellen. Deshalb fragte ich die beiden Jungen: »Ist es nicht besser in die Brust? Ein Schuß ins Herz und dann ist’s aus.«
Doch der Junge kannte die Dynamik des Schmerzes besser als ich und begann detailliert über die Folgen einer Schußverletzung zu referieren, wie ein echter Fachmann.
»Nein, ein Schuß in die Brust tut weh, sehr weh, und du stirbst erst nach zehn Minuten. Die Lungen müssen sich mit Blut füllen, und es trifft dich wie eine feurige Nadel, mit der sie hineinstechen und in der Wunde herumbohren. Auch an Armen und Beinen tut es weh. Da ist es wie ein heftiger Schlangenbiß. Ein Biß, der sich ins Fleisch frißt. Am Kopf dagegen ist es besser, so machst du dir nicht in die Hose, die Scheiße kommt dir nicht raus, und du krümmst dich nicht eine halbe Stunde auf dem Boden ...«
Der Junge hatte mehr als eine Leiche gesehen. Am Kopf getroffen zu werden verhindert, daß man vor Angst zittert, sich in die Hose macht und daß der Gestank, der Gestank der Eingeweide, aus den Löchern im Bauch dringt. Ich stellte weitere Fragen über die Einzelheiten des Sterbens und über Morde. Alle möglichen Fragen, nur die eine nicht, die ich ihm hätte stellen sollen, die, warum man mit vierzehn Jahren darüber nachdenkt, wie man am besten sterben sollte. Dieser Gedanke kam mir gar nicht in den Sinn. Der Junge stellte sich mit seinem aus der japanischen Zeichentrickserie Pokemon entnommenen Spitznamen vor. Weil er blond und ein bißchen rundlich war, nannten ihn seine Freunde Pikachu. Er zeigte mir zwei Typen in der Menge, die um die Tote herumstand und sie betrachtete. Pikachu sagte mit leiser Stimme: »Schau, die da, die haben Pupetta umgebracht ...«
Carmela Attrice wurde Pupetta genannt. Ich versuchte das Gesicht der jungen Männer zu sehen, die Pikachu mir gezeigt hatte. Sie wirkten ziemlich aufgeregt und bewegten Kopf und Schultern mal hierhin, mal dorthin, um die Polizisten besser zu sehen, die die Leiche zudeckten. Ohne ihr Gesicht zu verbergen, hatten sie die Frau umgebracht, sich dann in der Nähe unter das Standbild von Padre Pio gesetzt und waren, als sich eine Menge um die Leiche versammelt hatte, hingegangen, um sie anzuschauen. Einige
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