Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
niemanden entscheiden zu müssen. In den achtziger Jahren, zu Beginn seiner Berufslaufbahn, arbeitete mein Vater als Notarzt. Vierhundert Tote im Jahr. In einer Gegend, in der tagtäglich bis zu fünf Menschen ermordet wurden. Er kam mit dem Krankenwagen, aber wenn der Verletzte am Boden lag und die Polizei noch nicht zur Stelle war, konnte man ihn nicht einfach abtransportieren. Sonst kamen die Killer zurück, verfolgten den Krankenwagen, blockierten die Straße, drangen in den Wagen ein und vollendeten ihr Werk. Das war schon dutzendemal geschehen, und Ärzte wie Rettungssanitäter wußten, daß sie vor einem Verletzten ausharren und warten mußten, bis die Killer zurückgekehrt waren und ihren Auftrag zu Ende geführt hatten. Doch einmal kam mein Vater nach Giugliano, einer größeren Ortschaft zwischen Neapel und Caserta im Hoheitsgebiet der Mallardo. Der Junge war erst achtzehn Jahre alt, vielleicht sogar jünger. Man hatte ihn in den Brustkorb geschossen, aber eine Rippe hatte das Projektil abgelenkt. Der Krankenwagen war sofort zur Stelle, er befand sich ganz in der Nähe. Der Junge röchelte, er schrie und verlor Blut. Mein Vater lud ihn in den Krankenwagen. Die Sanitäter waren entsetzt und versuchten, ihn davon abzubringen, denn es war klar, daß die Killer keine Zeit gehabt hatten, genau zu zielen, weil sie von einer Polizeistreife in die Flucht geschlagen worden waren. Aber sie würden mit Sicherheit wiederkommen. Die Sanitäter versuchten meinen Vater hinzuhalten: »Warten wir. Sie kommen, erledigen ihren Job, und dann nehmen wir ihn mit.«
Mein Vater brachte das nicht fertig. Schließlich hat auch der Tod seine Zeit. Und achtzehn Jahre, das erschien ihm einfach zu jung, um zu sterben, selbst für einen Soldaten der Camorra. Er lud ihn also in den Wagen, brachte ihn ins Krankenhaus, und der Junge wurde gerettet. Die Killer, die ihr Ziel nicht genau getroffen hatten, kamen in der Nacht zu ihm nach Hause. Zu meinem Vater. Ich war nicht da, ich lebte bei meiner Mutter. Aber ich habe diese Geschichte so oft und immer bis zum selben Ende gehört, daß ich das Gefühl habe, ich sei zu Hause gewesen und hätte alles miterlebt. Mein Vater wurde offensichtlich blutig geschlagen. Zwei Monate lang ging er nicht aus dem Haus. Weitere vier Monate lang konnte er niemandem sein Gesicht zeigen. Die Entscheidung, einen Todgeweihten zu retten, bedeutet, daß man sein Schicksal teilen möchte, denn mit eisernem Willen allein ändert man gar nichts. So löst man keine Probleme. Eine solche Entscheidung, bewußt getroffen und genau bedacht, ist nicht dazu angetan, einem das Gefühl zu geben, man hätte bestmöglich gehandelt. Was man auch tut, aus irgendeinem Grund ist es immer das Falsche. Das ist die wahre Einsamkeit.
Der kleine Nico lachte wieder. Micaela ist etwa so alt wie ich. Als sie ankündigte, ihr Land zu verlassen und nach Italien zu gehen, wird man auch sie beglückwünscht haben, ohne weiter nachzufragen. Man wußte nicht, ob sie als Hure oder Ehefrau, als Haushaltshilfe oder Angestellte ging, man wußte nur, daß sie wegging. Grund genug, sie zu den Glücklichen zu zählen. Nico dagegen zerbrach sich nicht den Kopf. Er preßte die Lippen fest zusammen, als seine Mutter ihm schon wieder einen Schluck Milch einflößen wollte. Um ihn dazu zu bewegen, den Mund aufzumachen, legte mein Vater ihm den Ball vor die Füße. Nico kickte mit aller Kraft. Der Ball prallte gegen Knie, Schienbeine und Schuhspitzen der Leute. Und mein Vater lief hinterher. Er wußte, daß Nico ihm zuschaute, daher spielte er den Tolpatschigen und machte Anstalten, um eine Nonne herumzudribbeln, aber der Ball sprang ihm abermals vom Fuß. Der Kleine lachte, die zahllosen Beine vor seinen Augen vermittelten ihm wohl das Gefühl, er befände sich in einem Gestrüpp aus Füßen und Sandalen. Es machte ihm Spaß, seinem Vater, unserem Vater zuzuschauen, der seinen Bauch vor sich hertrug und sich redlich bemühte, diesen Ball zu erwischen. Ich versuchte, ihm zum Abschied wenigstens zuzuwinken, aber da war er schon hinter einer Menschenmauer verschwunden. Erst nach einer guten halben Stunde würde er wiederauftauchen. Es hatte keinen Zweck zu warten. Es war auch schon spät. Man sah nichts mehr von ihm, er war einfach in der Menge untergegangen.
Mariano hatte es tatsächlich geschafft, Michail Kalaschnikow kennenzulernen. Einen ganzen Monat lang war er in Osteuropa umhergereist. Rußland, Rumänien, Moldawien: der Urlaub war eine Prämie der
Weitere Kostenlose Bücher