Gondeln aus Glas
Jahr das Dach neu decken lassen, und im nächsten Frühjahr kommt der Putz zum Canalazzo dran. Teresia hasst es, unter dem Dach zu wohnen, aber mir reicht es. Ich bin ja meist beruflich unterwegs.»
«Seit wann bist du bei der Bahn?»
«Seit sechs Jahren. Ich könnte es zum Bahnhofsvorsteher von Padua bringen, wenn ich wollte.»
«Aber du willst nicht?»
Valmarana schüttelte den Kopf. «Unter dem Strich verdiene ich auf der Strecke besser.» Er grinste. «Der Trinkgelder wegen. Ich habe einen festen Kundenkreis. Leute, die sich erkundigen, wann ich Dienst habe, und nur mit mir fahren wollen. Dabei fällt nicht wenig für mich ab.» Valmarana klopfte sich auf die Brusttasche seiner Uniformjacke. «In Umschlägen – so wie die Künstler ihre Honorare bekommen.»
Vor dem Telegrafenbüro blieben sie stehen und gaben sich zum Abschied die Hand. Valmarana hatte seine Dienstmütze mit der breiten Goldborte wieder aufgesetzt und erinnerte Tron jetzt an einen Portier vom Danieli. Seine pomadisierten braunen Haare, die links und rechts unter seiner Mütze herausragten, glänzten schmierig, wie geglättet mit Maschinenöl.
«Das mit dem Trinkgeld», sagte Tron, indem er sich zum Gehen wandte, «hört sich gut an.»
Was eine krasse Lüge war, denn das mit dem Trinkgeld hörte sich gar nicht gut an, fand er. Es hörte sich einfach nur peinlich an. Genauso peinlich wie der servile Bückling, mit dem Valmarana vorhin den Umschlag des Generals in Empfang genommen hatte. Andererseits war nicht auszuschließen, dass Valmarana auf diese Weise mehr verdiente als ein schlecht bezahlter Commissario, dessen Palazzo kein neu gedecktes Dach hatte und der nicht wusste, mit welchem Geld er den Putz zum Rio Tron erneuern konnte.
Jedenfalls, dachte Tron, als er aus der Bahnhofshalle ins Freie trat und langsam die Treppen zum Canalazzo herabstieg, war die Vorstellung, der dicke Valmarana könne eine Schlinge um Kostolanys Hals geworfen und so lange zugezogen haben, bis das Herz des Kunsthändlers aufgehört hatte zu schlagen, einigermaßen absurd. Und wenn es stimmte, was Valmarana ihm erzählt hatte, gab es auch kein Motiv für ihn, Kostolany zu töten. Allerdings konnte es nicht schaden, Alphonse de Sivry morgen ein paar Fragen zu stellen.
Zwei kaiserliche Offiziere, ihre weißen Offiziersmäntel lässig über die Schultern gehängt, stiegen aus einer Gondel und eilten an Tron vorbei die Treppen zum Bahnhof hinauf. Am Fuß der Treppen blieb Tron stehen, legte den Kopf in den Nacken (wobei er seinen Zylinderhut sorgfältig festhielt) und sah, dass der Himmel über ihm vollständig klar war, rein gewaschen von einer leichten Brise, die von der östlichen Lagune her über die Stadt wehte. Eine matt erleuchtete Gondel zog vorüber, und einen Augenblick lang kräuselte sich die schwarze Oberfläche des Canalazzo zu winzigen Wellen, auf denen das Mondlicht funkelte.
9
Lord Duckworth, hager, rothaarig und mit fast farblosen Wimpern, beugte sich über die Rötelzeichnung, die der dickliche Franzose vor ihn auf den Ladentisch gelegt hatte, und versuchte, seinen Atem im Zaum zu halten. Der Bursche, bei dem es sich offen bar um den Eigentümer des protzigen Ladens an der Piazza San Marco handelte, hatte das Blatt mit seinen rosa Wurstfingern aus einer Schublade geholt und auf den Tisch gelegt. Dann hatte er voilà gesagt, sich kurz verneigt und war mit der schleimigen Höflichkeit der Franzosen einen Schritt zurückgetreten. Lord Duckworth war davon überzeugt, dass seine Glubschaugen jetzt lauernd auf ihm ruhten. Es würde also klug sein, sich nichts anmerken zu lassen.
Was da leicht angestaubt und mit abgeknickten Rändern vor ihm auf dem Tisch lag, war ein echtes Schnäppchen. Er hatte das Original, ein großes, rundes Gemälde, in Florenz gesehen und war andächtig davor verharrt: die Mutter Gottes, im üblichen blauroten Gewand, die sich athletisch nach hinten drehte und das Jesuskind (einen kleinen Lockenkopf mit muskulösen Armen und Beinen) über ihre rechte Schulter reichte, wo ein kräftig gebauter Joseph den jungen Erlöser entgegennahm.
Für eine anonyme Rötelzeichnung aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts war der Preis lächerlich hoch. Doch wenn es sich tatsächlich um einen Entwurf zu dem Tondo aus den Uffizien handelte, war die Summe, die der dicke Franzose dafür verlangte, ein Witz – nur dadurch zu erklären, dass der Bursche, der ihn immer noch mit dem dümmlichen Gesichtsausdruck eines Oberkellners
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