Gone 4: Rache
waren in Petes Zimmer, standen ein paar Schritte voneinander entfernt und hatten Sam den Rücken zugekehrt.
Auf dem Bett saß eine Frau. Eine Erwachsene, die Petes Kopf schützend in ihrem Schoß hielt.
»Mom?«, fragte Astrid.
Die Frau war Ende dreißig. Sie hatte glattes blondes Haar und eine durchscheinende blasse Haut. Sie sah aus wie Astrid, nur älter und mit Spuren von zu viel Sonne. Ihre Augen waren braun. Ein trauriges Lächeln umspielte ihre Lippen. Sanft streichelte sie Petes Haar.
»Mom?«, sagte Astrid noch einmal, nur dieses Mal versagte ihr die Stimme.
Die Frau antwortete nicht. Sie sah Astrid nicht einmal an. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt dem kleinen Pete.
»Sie ist nicht echt«, sagte Astrid und machte einen Schritt zurück.
Lana starrte Astrid an. Jetzt erst bemerkte sie Sam und ihre Augen wurden schmal. »Du wusstest davon, nicht wahr?«, fragte sie ihn vorwurfsvoll.
»Sie ist nicht echt«, wiederholte Astrid. »Das ist nicht meine Mutter. Das ist … eine optische Täuschung. Er ist krank. Ich war nicht da … deshalb hat er sie erschaffen. Damit sie ihn tröstet.«
»Er hat sie erschaffen ?« Lana spie die Worte regelrecht aus. »Weil man das einfach so kann, was? Mal eben eine dreidimensionale, echt aussehende Mami herbeizaubern, damit sie uns in den Arm nimmt, wenn wir uns mies fühlen.«
»Petey, hör auf damit!«, rief Astrid.
Die Frau – die Illusion einer Frau – reagierte nicht, sondern streichelte Pete unbeirrt weiter.
»Heile ihn, Lana. Wenn du ihn heilst, hört es auf. Er hat Fieber. Er hustet.«
Als wollte er es beweisen, hustete Pete mehrmals.
Es sah merkwürdig aus. Er hielt sich nicht die Hand vor den Mund, verzog auch nicht das Gesicht. Er hustete bloß.
»Versuch es, Lana«, drängte jetzt auch Sam. »Bitte!«
Lana wandte sich ihm zu. »Interessante Kraft für einen Autisten, findest du nicht? Vor allem, wenn man bedenkt, was überall erzählt wird. Von der Wand zum Beispiel, die ein paar Sekunden lang weg war, als er das Bewusstsein verlor.«
»Unter uns gibt es eine Menge Mutanten«, erwiderte Sam so gelassen wie möglich.
»War er nicht im Atomkraftwerk, als die FAYZ entstand?«, fragte Lana.
Astrid und Sam wechselten einen vielsagenden Blick, schwiegen jedoch.
Das war für Lana Antwort genug. »Er war also dort. Das Kraftwerk steht in der Mitte der FAYZ . Exakt in der Mitte.«
»Bitte, Lana, versuch, ihn zu heilen«, drängte Astrid.
»Er hat bloß Fieber und Husten«, erwiderte Lana. »Kein Grund, ihn unbedingt zu heilen, oder?«
Auch darauf antworteten Sam und Astrid nicht.
Lana ging näher an das Bett heran. Die Hand der Frau lag immer noch auf Petes Kopf. Als Lana ihre eigene Hand auf Petes Brust legte, zeigte sie keinerlei Reaktion.
»Das ist also deine Mutter?«, fragte Lana schon ruhiger.
»Nein«, antwortete Astrid.
»Komisch, eine Erwachsene zu sehen, findet ihr nicht?«
»Sie ist eine Illusion«, sagte Astrid leise. »Petey hat die Kraft … seine Visionen real aussehen zu lassen.«
»Ja«, meinte Lana trocken. »Alles nur eine Täuschung. Wie der kurze Blick auf die Außenwelt, als dein Bruder in Ohnmacht kippte. Alles nur Illusion: deine Mom, die Welt da draußen …«
Plötzlich verschwand die Frau. Petes Kopf fiel zurück aufs Kissen.
»Du hilfst ihm«, sagte Sam. »Es geht ihm besser.«
»Weißt du, was interessant ist?«, fragte Lana in einem Ton, als plauderten sie über Belangloses. »Die Sonne, der Mond, die Sterne über uns, das sind auch nur Illusionen. So viele Illusionen. So viele Zufälle. So viele Geheimnisse.«
Sam sah Astrid nicht an. Er wünschte, er wäre nicht gekommen. Doch mehr noch wünschte er sich, Astrid hätte Lana nicht hierhergebracht, auch wenn er Verständnis dafür hatte.
Nach einer Weile ließ Lana von Pete ab. »Ich weiß nicht, ob es was geholfen hat oder nicht.«
»Danke«, sagte Astrid.
Lana flüsterte: »Ich kann ihn spüren.«
»Wie er gesund wird?«
Lana schüttelte den Kopf. »Nein, ihn . Ich spüre ihn. Er berührt ihn. Beobachtet ihn.« Ihr Gesicht zuckte, wie unter Schmerzen. »So wie mich.«
Ohne sie noch einmal anzusehen, eilte Lana aus dem Zimmer.
Sie standen beide da, wussten nicht, was sie sagen sollten.
Schließlich durchbrach Sam die Stille. »Ich werde ein paar Tage weg sein. Die Wasserlage … ich mach mich auf die Suche nach einem anderen See.«
Tränen liefen über Astrids Wangen.
»Das war sicher schlimm für dich«, sagte Sam. »Obwohl du wusstest, dass es
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