GONE Hunger
Träume sind. Vielleicht gelingt es Orsay, in ihren Kopf einzudringen.«
Die Wanze hatte zwar kein Wort verstanden, aber zu allem genickt.
»Orsay soll herausfinden, was die Dunkelheit mit mir vorhat«, hatte Caine verlangt. »Ich will wissen, was mit mir passiert, wenn ich ihr Nahrung bringe. Sag Orsay, ich lass sie gehen, wenn sie mir erzählt, was die Dunkelheit träumt.«
Es war ein wichtiger Auftrag. Caine hatte ihm versprochen, dass er künftig beim Essen immer als Erster drankäme. Der Wanze war aber auch so klar, dass er sich keinen Misserfolg leisten durfte. Leute, die Caine enttäuscht hatten, hatten teuer dafür bezahlt.
Ralphs Laden wurde nach wie vor streng bewacht. Zwei bewaffnete Kids waren auf dem Dach postiert, zwei am Eingang und zwei beim Ladedock am Hinterausgang. Vor dem Laden herrschte großer Andrang, die Kids belagerten die Tür, schrien herum, drängelten und schubsten einander.
Die meisten waren hier, um sich ihre Tagesration zu hole n – ein paar Konservendosen, die von gelangweilten und für ihr Alter schon reichlich zynischen Zehnjährigen ausgegeben wurden.
»Wenn du glaubst, du kannst mich austricksen, musst du früher aufstehen«, schnauzte einer von ihnen ein Mädchen an. »Du warst vor zwei Stunden schon mal hier. Ich erkenn dich auch in neuen Klamotten. Mach schon, hau ab!«
Andere waren gekommen, um sich mit elektrischem Strom zu versorgen. Der Laden lag außerhalb der Stadt und hing offenbar noch am Stromnetz, denn durch die Tür liefen Verlängerungskabel ins Freie und waren an Mehrfachstecker angeschlossen. Die Leute standen Schlange, um die Akkus ihrer iPods, Taschenlampen und Laptops aufzuladen.
Die Wanze würde Caine davon erzählen, damit Jack den Laden vom Netz nahm.
Wenn der Strom hier funktionierte, dann war auch die automatische Schiebetür noch in Betrieb. Die Wanze wartete, bis jemand hineinging, und schloss sich unbemerkt an.
Im Laden war es gespenstisch. Inzwischen herrschte auf allen Regalflächen gähnende Leere. Die wenigen Reste waren im Mittelgang zu mehreren Haufen gestapelt.
Die Wanze schlich den Gang entlang, achtete darauf, keinen der Arbeiter zu streifen, und musterte die Vorräte: Bratensaft in Gläsern, Chilipulver, eingelegte Paprikaschoten und Essigzwiebeln, künstlicher Süßstoff, Muschelsaft, Sauerkraut in Dosen, grüne Bohnen.
In einem separaten und eigens bewachten Bereich befand sich ein Regal, auf dem ein Schild mit der Beschriftung Nur für die Kita klebte. Hier gab es noch Haferflocken, Kondensmilch, Kartoffeln und ein paar Tetrapacks mit Fruchtsäften.
Es war nur noch eine Frage von Tagen, bis sich die Hungersnot in Perdido Beach genauso zuspitzen würde wie in Coates. Die Zeiten, in denen es noch Chips und Süßigkeiten gab, waren endgültig vorbei. Ihm wurde bewusst, dass die Handvoll Minzbonbons, die er beim Auskundschaften des Kraftwerks abgestaubt hatte, ein echter Glückstreffer gewesen war.
Und diesmal sollte die Wanze sogar noch mehr Glück haben. Es war reiner Zufall, dass er das Geheimnis des Ladens entdeckte. Als er ein paar Leuten ausweichen musste und sich neben der Schwingtür zum Lagerraum an die Wand drückte, stieß jemand die Tür auf. Die Wanze erhaschte einen Blick auf zwei Kids, die eine Plastikwanne voll Eis schleppten.
Wenn er die Schwingtür öffnete, riskierte er, entdeckt zu werden. Da ihn aber alles, was andere zu verbergen hatten, brennend interessierte, ging er das Wagnis ein.
Er holte tief Luft, machte sich innerlich bereit, notfalls sofort die Flucht zu ergreifen, stieß die Tür einen Spaltbreit auf und schlüpfte hindurch. Die Kids mit der Wanne waren nicht mehr da, dafür waren hinter einer Wand aus großen, mit Plastikbecher beschrifteten Pappkartons Geräusche zu hören.
Als er vorsichtig um die Ecke lugte, erblickte er einen Arbeitsbereich aus rostfreiem Stahl, der früher Metzgern gehört haben musste. Vier Kids in langen, bis zum Boden reichenden Gummischürzen standen davor und waren mit großen Messern zugange.
Sie zerlegten Fisch!
Die Wanze traute seinen Augen nicht. Manche der Fische waren gro ß – mindestens einen Meter lan g – außen silbergrau, innen weiß und rosa. Andere waren kleiner, braun und vollkommen flach. Einer war furchtbar hässlich und wirkte verkrüppelt. Und zwei sahen überhaupt nicht wie Fische aus, sondern eher wie durchnässte blaue Fledermäuse.
Die Kids schlitzten die Fische auf, ließen die Gedärme unter lauten »Ist-das-eklig«-Rufen in große weiße
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