GONE Hunger
konnten sie ihm doch nicht die Schuld geben.
Zuerst hatte er daran gedacht, nach Coates zu gehen. Aber das würde seine Probleme auch nicht lösen. Coates, das waren Caine, die Hexe Diana und vor allem Drake.
Drake hatte Hunter bis in seine schlimmsten Träume verfolgt. Peitschenhand nannte er sich neuerdings, was ja auch wirklich bezeichnend war. Aber nicht die Peitsche machte Hunter Angst, sondern Drakes Gewalttätigkeit und sein hemmungsloser Sadismus.
Nein. Coates kam nicht infrage.
Er konnte nirgendwohin.
Den Rest der Nacht hatte er in einem der verlassenen Häuser in den Hügeln verbracht, vor Hunger und Angst aber kaum geschlafen.
Sollte er in zwei Tagen immer noch so verzweifelt sein, tröstete sich Hunter, wüsste er eine Lösun g – wenn auch nicht unbedingt die beste. In zwei Tagen wurde Hunter fünfzehn. Dann konnte er aussteigen. Tschüss, FAYZ!
Er war auch längst nicht mehr der Einzige, der mit diesem Gedanken spielte. In letzter Zeit hatte er immer öfter Kids sagen hören: »Sobald ich fünfzehn bin, bin ich hier raus.«
Angeblich begegnete man im Augenblick des Verpuffens der Person, die man am schmerzlichsten vermisste. Wenn man sie abwies und nicht mit ihr ging, blieb man in der FAYZ. Doch wenn man ihr folgt e … Tja, das war die große Frage. Niemand wusste, was dann geschah.
Hunter blieb auch am nächsten Morgen in seinem Versteck. Die Angst vor dem, was ihn draußen erwartete, war einfach zu groß. Er durchsuchte das ganze Haus nach Essen, schaute in jeden Schrank und in jeden Winkel, fand jedoch nichts. Es wies ohnehin alles darauf hin, dass Alberts Suchtrupp längst hier gewesen war. Die Küchenschränke waren leer geräumt, der Kühlschrank stand offen und es fand sich nicht das kleinste Krümelchen.
Irgendwann stand Hunter völlig verzweifelt mitten im Wohnzimmer, starrte in den Garten hinaus und dachte über das Gras und das Unkraut nach. Gräser waren Pflanzen. Tiere fraßen sie. Wenigstens hätte er dann etwas im Magen.
Gras und Unkraut. In Wasser gekocht. Das würde er hinbekommen.
Dann sah er den Hirsch.
Es war ein hyperwachsames Geschöpf mit einem süßen, leicht dämlichen Gesichtsausdruck und blinzelnden schwarzen Augen.
Ein Hirsch. So groß wie ein Kalb.
Mit zwei Schritten war Hunter an der Gartentür. Als er sie öffnete, erschrak der Hirsch und ergriff die Flucht. Hunter hob seine Hände und dachte: Brenne!
Anstatt tot zusammenzubrechen, stieß der Hirsch ein Quieken aus, das Hunter nie mit Hirschen in Verbindung gebracht hätte, und rannte weiter. Dabei zog er ein Bein nach.
Hunter richtete seine Kraft ein zweites Mal auf das Tier und brachte es zum Stolpern. Seine Vorderbeine wollten weiterlaufen, doch die Hinterläufe waren gelähmt. Es stürzte um.
Hunter lief zu dem Hirsch. Er lebte noch. Kämpfte. Sah ihn mit sanften Augen an, und einen Moment lang zögerte Hunter.
»Entschuldige.«
Er zielte auf den Kopf des Tiers. Eine Sekunde später rührte es sich nicht mehr. Die Augen wurden trüb.
Es roch wie ein Steak auf dem Grill.
Hunter brach in Tränen aus. Er heulte so hemmungslos wie schon lange nicht mehr. Genau dasselbe hatte er mit Harry gemacht. Der arme Harry. Und jetzt dieses arme Tier, das selbst bloß hungrig gewesen war.
Eben war es noch am Leben gewesen und hatte Gräser gerupft. Und jetzt war es tot. Nicht nur tot, sondern zum Teil schon gekocht.
Er beschloss, den Hirsch nicht zu essen. Doch noch während er sich sagte, dass er so was niemals fertigbrächte, nicht konnte, nicht durfte, suchte er in der Küche bereits nach dem größten Messer.
Orsay sehnte sich nicht mehr nach Träumen, sie sehnte sich nach Essen. Seit sie in Coates war, bekam sie gerade genug, um am Leben zu bleiben. Die Leute durchkämmten in ihrer Verzweiflung die umliegenden Wälder, suchten nach Pilzen und machten Jagd auf Eichhörnchen und Vögel.
Ein paar hatten Grünzeug gesammelt und in Wasser gekocht. Danach war ihnen schlecht gewesen, satt waren sie aber auch nicht geworden.
Die Kids waren abgemagert und hohlwangig. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sich ihre Bäuche aufblähten, ihre Haare rötlich und brüchig wurden und die tödliche Lethargie einsetzte. Orsay hatte einmal einen Aufsatz zum Thema Hungersnot geschrieben, doch sie hatte nie damit gerechnet, dass sie irgendwann selbst davon betroffen sein könnte. Mittlerweile fielen immer öfter makabere Witze über Kannibalismus.
Orsay hatte sich auf das Bett in der Waldhütte gelegt und schaute sich
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