GONE Verloren
»Ich hab geschlafen, dann bin ich aufgewacht und nach unten gegangen. Sie waren beide in der Küche und haben sich angeschrien. Ich sah Tom mit einem Messer und auf einmal schoss dieser Blitz aus meinen Händen.«
Sam spürte, wie ihm Tränen in die Augen stiegen. Das überraschte ihn. Er war nicht traurig. Wenn überhaupt, war er erleichtert. Er hatte das noch keinem Menschen erzählt. Ihm fiel eine enorme Last von den Schultern. Doch gleichzeitig bemerkte er, dass Quinn einen Schritt zurückwich, sich von ihm entfernte.
»Meine Mom hat natürlich alles gesehen, mich aber in der Notaufnahme gedeckt. Tom schrie die ganze Zeit, ich hätte auf ihn geschossen. Für die Ärzte war es jedoch eine Verbrennung und keine Schussverletzung. Meine Mom tischte ihnen eine Lüge auf, dass Tom sich am Herd verletzt hätte. Als die schmerzstillenden Mittel wirkten, begriff Tom, dass er auf der Psychiatrie landen würde, wenn er weiterhin behauptete, sein Stiefsohn hätte Lichtstrahlen auf ihn abgefeuert.«
»Du hast deinem Stiefvater die Hand abgefackelt?« Quinns Stimme war schrill geworden.
»Was? Er hat was?« Edilio stand der Mund offen.
»Sie mussten ihm die Hand abtrennen, ungefähr hier.« Quinn machte eine Bewegung, als würde er sich den Unterarm abhacken. »Ich habe ihn zufällig in San Luis getroffen, vor ungefähr einer Woche. Er hat jetzt so einen Haken, ihr wisst schon, so ein Ding mit zwei Zangen. Er hat Zigaretten gekauft und dem Verkäufer das Geld mit dem Haken gegeben.« Mit zwei Fingern ahmte er die Zangen der Prothese nach. »Du bist also so eine Art Freak?«, fügte Quinn hinzu.
»Ich bin jedenfalls nicht der Einzige«, verteidigte sich Sam. »Die Kleine bei dem Brand war auch nicht normal. Ich glaube, sie hat ihn selbst ausgelöst. Als sie mich gesehen hat, wurde sie panisch. Es war, als würde sie aus ihren Händen flüssiges Feuer auf mich abschießen.«
»Und du hast zurückgeschossen«, erriet Edilio. »Du hast dein Ding auf sie angesetzt.« Sam konnte in der Dunkelheit nur die Umrisse seines Gesichts sehen. »Das ist es, was dich die ganze Zeit verfolgt. Du hast sie in Notwehr getötet.«
»Ich kann es nicht kontrollieren. Und ich weiß nicht, wie ich es wieder loswerde. Ich bin nur froh, dass ich Pete nichts angetan habe. Ich bekam auf einmal keine Luft mehr.«
Quinn und Edilio wandten sich jetzt Astrids Bruder zu. Pete rieb sich den Schlaf aus den Augen und starrte teilnahmslos an ihnen vorbei. Möglicherweise war ihm nicht einmal bewusst, dass sie da waren. Vielleicht wunderte er sich, was er mitten in der Nacht vor einem Kernkraftwerk verloren hatte. Es konnte aber genauso gut sein, dass er sich über gar nichts wunderte.
»Er ist auch so einer«, sagte Quinn. »Ein Freak.«
»Er weiß nicht, was er tut«, entgegnete Astrid scharf.
»Soll ich das etwa beruhigend finden?«, fuhr Quinn sie an. »Was für einen Trick hat er drauf? Feuert er Raketen aus seinem Hintern?«
Astrid strich ihrem Bruder durchs Haar und streichelte seine Wange. »Fensterplatz«, flüsterte sie. »Fensterplatz ist ein Signalwort. Ein ruhiger Ort, an den er sich gedanklich zurückziehen kann. Es ist der Fensterplatz in meinem Zimmer.«
»Fensterplatz«, wiederholte Pete völlig unerwartet.
»Er kann ja sprechen«, staunte Edilio.
Astrid nickte. »Ja, das tut er aber nur selten.«
»Na toll, der Kleine kann sprechen. Was kann er sonst noch?«, fragte Quinn.
»Eine ganze Menge. Die meiste Zeit nimmt er mich nicht wahr. Aber einmal haben wir therapeutische Übungen gemacht. Mit seinem Bilderbuch. Das tun wir ab und zu. Ich zeige auf ein Bild und versuche, ihn dazu zu bringen, das Wort zu sagen, und dann … ich weiß nicht, ich muss an dem Tag schlechter Laune gewesen sein und war vielleicht zu ungeduldig mit ihm. Jedenfalls wurde er wütend. Und plötzlich war ich nicht mehr in seinem Zimmer, sondern in meinem eigenen.«
Keiner sagte etwas. Alle starrten den kleinen Pete an.
Quinn brach schließlich das Schweigen. »Vielleicht kann er uns ja aus der FAYZ und zu unseren Leuten beamen.«
Niemand erwiderte etwas. Sie standen wie angewurzelt mitten auf der Straße, während hinter ihnen das hell erleuchtete Kraftwerk summte.
»Wir leben in einer neuen Welt«, sagte Astrid nach einer Weile. »Über Pete weiß ich schon länger Bescheid. Ich wollte mir einreden, dass es ein Wunder ist. So wie du, Quinn, wollte ich glauben, dass Gott dahintersteckt.«
»Aber was steckt dann dahinter?«, fragte Edilio. »Diese Dinge
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