Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)
wäre, die toten Mäuse zu entfernen und die Mäusefallen wiederzuverwenden, aber ich brachte es nicht über mich, ihr schlaffes Fleisch anzufassen. Mama schimpfte nicht, als ich die Fallen mit Essstäbchen vom Boden aufhob. Nachdem ich Fallen, Mäuse
und Essstäbchen weggeworfen hatte, stellten wir nie wieder Mäusefallen auf. So waren wir, Mama und ich: zwei zart besaitete Buddhistinnen in einer Katastrophenwohnung.
Wir stellten den Tong Sing, den chinesischen Almanach, ans Kopfende der Matratze. Darin stehen viele so genannte fu, Zaubersprüche alter Meister, die einen weißen Knochendämon unter einem Berg festhalten oder wilde Fuchsgeister abwehren können. In Brooklyn erhofften wir uns von ihnen, dass sie Diebe fernhielten. Ich schlief schlecht und wurde immer wieder von Autos aus dem Schlaf gerissen, die auf der Straße über Schlaglöcher rumpelten. Dann flüsterte Mama: »Ist schon gut«, zwickte mich in die Ohren, um meine schlafende Seele zurück in meinen Körper zu holen, und strich dreimal mit der linken Hand über meine Stirn, um böse Geister abzuwehren.
Irgendwann waren meine Hände nicht mehr voller Staub, wenn ich die Wände berührte. Wir wussten, dass die Wohnung nun so sauber war, wie es eben ging, und stellten fünf Altäre in der Küche auf: für den Erdgott, die Vorfahren, den Himmel, den Küchengott und Kuan Yin. Kuan Yin ist die Göttin der Barmherzigkeit, die uns allen beisteht. Wir zündeten Räucherstäbchen an und gossen Tee und Reiswein vor die Altäre. Wir beteten zum Erdgott des Gebäudes und der Wohnung und baten ihn um die Erlaubnis, hier in Frieden zu leben, zu den Vorfahren im Himmel, damit sie Probleme und böse Menschen fernhielten, zum Küchengott, damit er uns nicht verhungern ließ, und zu Kuan Yin, damit sie uns unsere Herzenswünsche erfüllte.
Am nächsten Tag sollte für mich die Schule anfangen, und Mama würde ihre Arbeit in der Fabrik antreten. Am Abend setzte sie sich zu mir auf die Matratze.
»Ah- Kim, seit ich die Fabrik gesehen habe, lässt mir ein Gedanke
keine Ruhe. Mir ist klar geworden, dass ich keine andere Wahl habe«, sagte Mama.
»Was meinst du?«
»Ich möchte, dass du nach der Schule zu mir in die Fabrik kommst. Ich will nicht, dass du hier alleine in der Wohnung bist und jeden Nachmittag und Abend auf mich warten musst. Außerdem habe ich Angst, dass ich die Endbearbeitung in der Fabrik nicht alleine schaffe. Die letzte Frau, die meine Arbeit gemacht hat, hatte zwei Söhne, die ihr geholfen haben. Ich muss dich also bitten, nach dem Unterricht zu mir in die Fabrik zu kommen und mir zu helfen.«
»Natürlich, Mama. Ich helfe dir doch immer.« Ich legte meine Hand auf ihre Hand und lächelte. In Hongkong hatte ich immer das Geschirr abgetrocknet und die Wäsche zusammengelegt.
Zu meinem Erstaunen wurde Mamas Gesicht ganz rot, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen. »Ich weiß«, sagte sie. »Aber das hier ist etwas anderes. Ich habe gesehen, wie es in der Fabrik zugeht.« Sie nahm mich in die Arme und drückte mich so fest, dass mir die Luft wegblieb. Als sie mich losließ, hatte sie sich wieder unter Kontrolle. Sie sprach leise, als redete sie mit sich selbst: »In Hongkong wären wir in einer Sackgasse gelandet. Die einzige Zukunft, die ich für uns, für dich, gesehen habe, war hier, wo du werden kannst, was immer du willst. Es ist vielleicht nicht genau so, wie wir es uns zu Hause vorgestellt hatten, aber es wird alles gut.«
»Muttertier und Junges.«
Mama lächelte und stopfte die dünne Baumwolldecke, die wir aus Hongkong mitgebracht hatten, um mich fest. Dann legte sie unsere Jacken und ihren Pullover darüber, um mich warm zu halten.
»Mama? Bleiben wir in dieser Wohnung?«
»Ich spreche morgen mit Tante Paula.« Mama stand auf und holte ihren Geigenkasten. Sie stellte sich in die Mitte des dunklen Wohnzimmers vor die rissigen Wände, hob die Geige ans Kinn und begann ein chinesisches Wiegenlied zu spielen.
Ich seufzte. Mir kam es vor, als hätte ich Mama seit Ewigkeiten nicht mehr spielen gehört, dabei waren wir erst eineinhalb Wochen in Amerika. In Hongkong hatte ich oft zugehört, wenn sie in der Schule Musik unterrichtete oder in unserer Wohnung Geigen- oder Klavierstunden gab, aber abends, wenn ich ins Bett ging, war sie meist zu müde zum Spielen gewesen. Jetzt war Mama hier bei mir, und ihre Musik war nur für mich da.
2
M ein erster Schultag fiel in die dritte Novemberwoche. Mama und ich hatten Mühe, die Schule zu
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