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Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Gorokhova
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Dozentin, könne sich etwas daraus entwickeln. Jedenfalls, setzt sie hinzu, sei es eine außergewöhnliche, höchst angesehene Anstellung.
    Meine Arbeit besteht darin, vor dem Büro des Direktors hinter einem gewaltigen Schreibtisch zu sitzen und die Anrufe entgegenzunehmen. Der Direktor, Wiktor Nikolajewitsch, wie jeder Funktionär Parteimitglied, scheint sich für die von mir durchgestellten Anrufe nicht sonderlich zu interessieren; die einzigen Telefonate, die ihn anregen, gehen auf einem roten Telefon ohne Wählscheibe ein, das auf dem Schreibtisch in seinem Büro steht. Wenn das rote Telefon läutet, legt er seine Füße auf einen Beistelltisch, lacht in den Hörer und macht sich kurz darauf, stets gut gelaunt, auf den Weg. Wiktor Nikolajewitsch scheint des Öfteren gut gelaunt zu sein. Ein Lächeln beginnt in seinen Augenwinkeln, gräbt Grübchen in seine Wangen und zieht seine vollen Lippen in die Breite, wenn er allmorgendlich gegen zehn, einer durchaus zivilisierten Uhrzeit, selbstsicheren Schrittes den Warteraum durchquert.
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»Chosjain«
, murmelt die Buchhalterin Ljudmila respektvoll, wenn er vorbeischlendert, was so viel heißt wie »Herr«. Er ist groß gewachsen und breitschultrig und sieht aus wie ein Herr. Er sieht so aus, als würde das
Haus der Freundschaft und des Friedens
mit seinen Marmortreppen, Bronzelüstern, vergoldeten Friesen und dreißig Mitarbeitern, die in ihren Büros im Erdgeschoss hocken, nicht dem Staat, sondern allein ihm gehören.
    Der hallende Warteraum, in dem ich hinter dem riesigen Schreibtisch sitze, gibt mir das Gefühl, sowohl unbedeutend als auch wichtig zu sein. Es ist der Treffpunkt für die Mitarbeiter der Büros im Erdgeschoss, wo Vorbereitungen für ausländische Delegationen, die unsere Stadt besuchen, getroffen werden. Dorthin zieht es die Koordinatoren der sozialistischen wie auch der kapitalistischen Abteilungen, um den allerneuesten Klatsch auszutauschen und ihre Kleidung zur Schau zu stellen. Die sozialistischen Frauen bevorzugen gewöhnlich grellere Farben. Die große, gertenschlanke Olja, die Koordinatorin für die DDR, trägt himmelblaue Kostüme mit kurzen Röcken, während die teigige Galina, die Koordinatorin für die Tschechoslowakei, Pfennigabsätze und kräftiges Make-up vorzieht. Sergei mit den traurigen Augen, der gut aussehende Koordinator für Bulgarien, kommt und klagt über seine Katerstimmung und die Tatsache, dass er die Hotelreservierungen für die Gruppen polnischer Sowjetabgeordneter übernehmen müsse, da Sweta, normalerweise für Polen verantwortlich, ein Jahr lang im Mutterschutz sei.
    Die kapitalistischen Koordinatoren tragen eher gedämpfte Töne, Beige, Grau und dunkles Grün. Rita, die vor zehn Jahren ihren Abschluss an meiner Fakultät gemacht hat, erscheint Hand in Hand mit der schlupfäugigen, theatralischen Tatjana Wassiljewna, der Koordinatorin für sämtliche englischsprachigen |255| Länder. In Gegenwart von Tatjana Wassiljewna fühle ich mich noch unwichtiger als sonst in dieser exklusiven Umgebung mit all den wichtigen, gut gekleideten Leuten. Sie erteilt mit Vorliebe jedem, der in der Hierarchie unter ihr steht, Ratschläge, und das ist so gut wie jeder, mit Ausnahme von Wiktor Nikolajewitsch, der hinter einer Eichentür neben meinem Schreibtisch sitzt.
    »Leg ein wenig Make-up auf, Herzchen«, raunt sie Anna zu, einer Schreibkraft, die sich in ihrem ewigen grauen, vom vielen Tragen blank gewetzten Kostüm über ihre Schreibmaschine beugt. Anna, die doppelt so alt ist wie ich und ausgesprochen schüchtern, zwingt ihre Lippen in ein Lächeln und wünscht, sie könnte in einer Wand verschwinden, fern von Tatjana Wassiljewnas beringten Fingern, die einen dicken Stapel mit Papieren umklammern, welche abgetippt werden sollen. Herzchen,
duschenka
, nennt sie alle jüngeren Frauen, bevor sie sie beleidigt oder mit Arbeit überhäuft.
    »
Duschenka
, nenne mich nicht Mistress vor diesen britischen Gentlemen«, gurrt sie Rita zu und legt einen Arm um sie. »Schließlich bin ich nicht mehr verheiratet.«
    Im
Haus der Freundschaft und des Friedens
weiß jeder, dass Tatjana Wassiljewnas Mann vor neun Jahren, drei Monate nach der Hochzeit, als sie gerade fünfunddreißig geworden war, seine Sachen gepackt und das Weite gesucht hat. Ein Wunder, dass er überhaupt so lange geblieben ist, sagte die Buchhalterin Ljudmila, als sie mir davon erzählte.
    »Sonst denken sie noch, ich wäre eine Hausfrau mit einem Haufen rotznasiger

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