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Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Gorokhova
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den Fang.
    In all den Jahren sind die Bretter der Datscha vom Schnee und Regen ganz ausgeblichen und nur an vereinzelten Stellen |56| noch Überreste der ursprünglich grünen Farbe zu erkennen. Ein leicht nach links abfallendes Vordach führt zu einer Veranda, in deren Mitte ein Tisch und zwei lange Bänke stehen. Im restlichen Haus herrscht immer Dunkelheit, da die beiden kleinen Fenster, durch die Licht in unser winziges Schlafzimmer und in die Küche fällt, von den Zweigen eines üppigen Fliederbusches verdeckt werden. Wenn ich hineingehe, brauchen meine Augen ein paar Sekunden, um sich an das Zwielicht zu gewöhnen, um die Umrisse eines mächtigen Holzofens zu erkennen, der bis zur niedrigen Zimmerdecke reicht.
    Ein weiterer Ofen, mit viel Platz für Töpfe und Pfannen, beherrscht die Küche. Sein gusseiserner Leib scheint aus den Bodendielen emporzuwachsen und sein Wurzelwerk in die irdische Tiefe unterhalb des Fundaments hinabzureichen. Ein metallenes Becken   – mit nichts verbunden, da es keine Rohre gibt   – hängt unter einem Topf mit einem Loch in der Mitte, in dem ein Metallstift steckt. Wenn ich ihn auf und ab bewege, tropft Wasser auf meine Hände und fließt durch ein Loch im Waschbecken in einen Eimer darunter. Das Becken erweckt den Eindruck, als handle es sich bei der Vorrichtung tatsächlich um einen Wasserhahn, durch den Wasser in ein Rohr und nicht etwa in einen übel riechenden Eimer fließt   – ein weiteres Beispiel für
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, wie ich es von Tante Polja gelernt habe.
    Deduschka, mein Großvater, liebt die Gartenarbeit. Groß und weißhaarig, stämmig wie eine Eiche, verwandelte er einen halben Hektar Wiese mit hüfthohem Gras in vorbildliche Beete mit Erdbeeren, Gurken und Dill. Er pflanzte Apfelbäume, deren Äste sich unter dem Gewicht der Äpfel biegen, sowie Stachelbeerbüsche, deren saure Früchte mit weichem, weißem Flaum überzogen sind. Hinten im Garten hat er ein Frühbeet für Tomaten errichtet, mit einer auf einen Holzrahmen gespannten Plastikplane, die mit Ziegeln beschwert ist.
    |57| Deduschka führt mit Vorliebe das Kommando. Meine Großmutter nennt ihn den Kommandanten. Sie beobachtet ihn vom Küchenfenster aus, während sie in einer Wanne mit warmem Wasser Teller spült, und als sie lächelt, legt sich hinter ihren Brillengläsern die Haut um ihre Augen in noch tiefere Falten.
    »Zeit zum Gießen!«, befiehlt er um Punkt sieben, wenn die Sonne den Himmel herab auf unseren Zaun zuzurollen beginnt. Folgsam, als sei sie auf einen Schlag eine ganz andere, unterwürfige, schweigsame Person geworden, bringt meine Mutter aus dem Schuppen zwei Eimer und zwei Gießkannen. Deduschka kurbelt den rostigen Griff unseres Brunnens, bis ein Eimer an einer Kette ins Wasser fällt. Ich lehne mich über den Brunnenrand und blicke in die Tiefe, ohne das Wasser zu sehen; ich höre nur, wie der Eimer an seiner Kette reißt, und dann ein Platschen. Mit beiden Händen zieht Deduschka den Eimer nach oben, ans Tageslicht. Zwei Eimer voll, einen nach dem anderen, um damit zwei Gießkannen zu füllen, die meine Mutter zu den Beeten mit Radieschen, Karotten und Roter Beete und dann zum Frühbeet für die Tomaten schleppt. Sie geht langsam, ihre Schultern werden von der Last nach unten gezogen, und ich wünschte, es hätte geregnet, damit sie nicht für Deduschka so viel heben und schwer tragen muss.
    Deduschka würde zu gern auch meinen Vater herumkommandieren, wenn er samstagabends mit Onkel Wolodja eintrifft, aber das lässt er lieber. Es gibt keine Straße, deshalb fahren sie über das Feld, das übersät ist mit den blauen Sternen der Kornblumen und den butterfarbenen Kelchen von Blumen, die »Hühnerblind« heißen. Wenn man sie esse, erfahre ich, können diese Blumen zu sofortiger Blindheit führen, vor allem bei Hühnern. Mein Vater und Onkel Wolodja holpern unter lautem Geschepper die ausgefahrenen Furchen entlang, so dass man sie in der Veranda schon von Weitem hört, und |58| parken das Auto am hinteren Tor, neben dem Komposthaufen. Ich laufe ihnen entgegen, um den Geruch meines Vaters nach Tabak und die Benzindämpfe, die das Auto dicht und klebrig umwogen, tief einzuatmen. Abgesehen vom obligatorischen Gießen und Unkrautjäten geschieht auf der Datscha derart wenig, dass jegliche Ablenkung   – ein Abstecher zum Laden oder ein vorbeirasender Lastwagen   – den Tag denkwürdig werden lässt. Die Ankunft meines Vaters aber ist etwas ganz Besonderes. Ein langer Sonntag liegt vor

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