Goodbye Leningrad
auf die Lippe beißt. »Ich möchte gern Schauspielerin werden«, sagt sie und blickt auf ihre Füße. »Ich möchte mich an der Schauspielschule bewerben.«
Meine Mutter, die gerade dabei ist, kochendes Wasser aus einem Kessel in eine kleine Kanne mit Teesud zu gießen, hält inne und durchbohrt Marina mit Blicken, die noch immer derart gebannt auf ihre Füße starrt, dass ich mich aus dem Flur heranschleiche, um zu sehen, ob irgendetwas Besonderes an ihren Hausschuhen klebt.
Iwan Sergejewitsch ist auf einmal ganz aufgeregt, als sei es das Beste, das er seit Langem gehört hat. »Ich kann Ihnen helfen, liebes Mädchen«, ruft er begeistert und presst die Hände vor seiner Brust zusammen, als flehe er Marina an, sein Angebot anzunehmen. »Ich habe eine wunderbare alte Freundin, eine Schauspielerin, der Sie vorsprechen könnten. Sie kann Ihnen sagen, ob Sie Talent fürs Theater besitzen. Sie kann Sie bei der Auswahl der Stücke beraten.« Er nennt den Namen der Schauspielerin, worauf Marina aufhört, ihre Schuhe anzustarren, und ihn ansieht. Den Namen hat sie schon oft gehört, zuerst im alten Haus in Iwanowo und später in Leningrad, ein Name, der mit einer Stimme verbunden ist, die täglich um drei eine Geschichte vorträgt, für die Marina manchmal den Unterricht schwänzt.
Er nennt Marina den Namen und die Telefonnummer, ohne zu bemerken, dass meine Mutter unheilvoll mit den Tellern |51| klappert und ganz aufgeregt im Schrank nach einem Glas Erdbeermarmelade sucht. Meine Mutter hat das gute Service aus dem anderen Zimmer aufgedeckt, das mit den Rosenknospen und dem Goldrand, das nur hervorgeholt wird, wenn wir Gäste haben, und wir trinken Tee und essen dick mit Butter und Marmelade bestrichene Brotscheiben, während Iwan Sergejewitsch die einzelnen Schritte des Zuchtvorgangs erläutert. Als wir fertig sind, wischt er sorgfältig die Brotkrümel vom Wachstuch in seine Handfläche und reicht sie Major, der die ganze Zeit unter dem Tisch auf ein Almosen gewartet hat. Dann begeben wir uns alle in den Flur, und als Iwan Sergejewitsch nach seinem Hut greift, zieht meine Mutter ihn in die Küche zurück und schließt die Tür.
Meine Schwester und ich stehen unter den Garderobenhaken, versteckt hinter wollenen Falten und zerknitterten Regenmänteln, und hören nur undeutliches Gemurmel. Ich versuche, ganz leise zu atmen, um Marinas Geduld nicht auf die Probe zu stellen. Normalerweise würde sie einen solchen Augenblick nicht mit mir teilen, doch in dem Bemühen, die Stränge zweier Stimmen hinter der Küchentür zu entwirren, duldet sie meine Gegenwart.
Als die Tür schließlich aufgeht, huschen wir in Marinas Zimmer und spähen durch den Spalt zwischen den Türangeln. Iwan Sergejewitsch schenkt meiner Mutter, die die Wohnungstür mit streitbarer Effizienz entriegelt, ein gequältes Lächeln.
Am nächsten Tag wählt Marina die genannte Nummer, und die Schauspielerin verabredet mit ihr einen Vorsprechtermin. Das Gesicht meiner Schwester glüht mit derselben fiebrigen Energie wie das meines Freundes Genka, wenn ihm ein neuer Plan eingefallen ist, um Tante Polja zu überlisten.
»Das ist doch nur kindisches Gewäsch«, sagt mein Vater beim Abendessen, während er die letzte Papirossa aus seiner |52| täglichen Packung Belomor raucht und sich über den Lärm ärgert, den meine Mutter mit dem Besteck im Waschbecken veranstaltet. Er habe Kopfschmerzen, sagt er, weil Onkel Wolodja, sein Fahrer, seinen zwölf Jahre alten
Pobeda
heute nicht habe reparieren können, und so musste er mit dem Bus fahren und mit anderen Pendlern wie Trauben aus den Türen hängen. Er drückt die Papirossa aus und steht auf. »Diese Schauspielerin, wie heißt sie noch, wird ein paar Gedichte über sich ergehen lassen und sie dann nach Hause schicken.«
Ich bin froh, dass Marina das nicht hören kann, da sie an diesem Abend Theaterprobe in der Schule hat.
»Vielleicht ist es ja besser so«, seufzt meine Mutter, während sie ein Tuch in die Hand nimmt und das Geschirr abzutrocknen beginnt. »Vielleicht muss sie von einer Schauspielerin hören, dass eine Theaterlaufbahn nicht infrage kommt. Wie meine Mamotschka immer sagt, alles geschieht zum Besten.« Die Verkleinerungsform
Mamotschka
, die sie anstelle von
Mama
benutzt, klingt für mich befremdlich, da ich mir meine üppige, hochbetagte Großmutter weder klein noch zierlich vorstellen kann. Die Philosophie meiner Großmutter klingt ebenfalls befremdlich: Wenn alles zum Besten geschieht, warum
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