Goodbye Leningrad
gibt es dann so vieles, das nicht gut ist?
Die ganze Woche über höre ich Marina in ihrem Zimmer proben, rezitieren und singen. Mit eindringlicher, beseelter Stimme liest sie Lermontows »Segel« und Paustowskis »Korb mit Tannenzapfen«. Ich lehne an ihrer Tür und versuche, die Zeilen auswendig zu lernen, damit ich sie später meinem Freund Genka mit derselben tragischen, melancholischen Stimme aufsagen kann, einer Stimme, die sich an ein düsteres, in Samt und Pelz gehülltes Theaterpublikum richtet.
Nach dem Vorsprechen erhält meine Mutter einen Anruf. Sie erzählt meinem Vater davon, während Marina zum Bäcker |53| geschickt wird, allerdings ist dieses Mal die Küchentür einen Spaltbreit geöffnet, so dass ich von meinem Versteck inmitten der Mäntel jedes Wort verstehen kann. Die Schauspielerin hatte sie im Lehrerzimmer der Anatomischen Fakultät angerufen, da wir zu Hause kein Telefon haben. Etwa fünf Minuten lang musste meine Mutter sich unter den Blicken eines gelangweilten Professors für Pathologie einen Vortrag über Marinas außergewöhnliches Talent anhören. Sie müssen begreifen, habe die Schauspielerin gesagt, dass sie eine Begabung fürs Theater besitzt. Sie müssen ihr unbedingt erlauben, die Schauspielschule zu besuchen.
Meine Mutter berichtet, sie habe wütend das Urteil vernommen, das die Pläne der Familie auf der Stelle zunichte gemacht und einen so nutzlosen Beruf wie die Schauspielerei gewissermaßen legitimiert habe. Allerdings musste sie auch zugeben, dass sie so etwas wie Stolz empfunden habe. Während die Schauspielerin Marinas angeborenes Talent pries, hatten Wut und Stolz einen Moment lang miteinander gehadert und der Stolz schließlich ganz unerwartet die Oberhand gewonnen. Meine Mutter hatte sich bedankt und den Hörer aufgelegt.
Als Marina mit einem Laib Brot nach Hause zurückkehrt, geht sie gleich in die Küche und beginnt, den Tisch zu decken. Gewöhnlich deckt sie den Tisch nur, wenn sie dazu aufgefordert wird, aber sie weiß, dass die Schauspielerin dieser Tage Mutter anrufen wird, weshalb sie sich sozusagen vorbeugend hilfsbereit und freundlich verhält.
Meine Mutter sieht ihr dabei zu, wie sie sich über das abgenutzte Linoleum bewegt, die Schranktüren öffnet und vier Teller herausnimmt.
»Elena Wladimirowna hat mich heute angerufen«, sagt sie, wobei sie die Schauspielerin bei deren Namen und Vatersnamen nennt, der einzigen Art und Weise, wie ein Erwachsener |54| in Gegenwart eines Kindes bezeichnet werden darf. »Du gehst nach Moskau«, sagt sie. Marinas Hand erstarrt in der Luft und lässt eine Gabel zu Boden fallen. Meine Schwester macht ein dummes Gesicht, wie man es nie zeigen sollte, wie ich es Tanta Polja gegenüber nie offenbaren würde – halb verwirrt, halb verschreckt. Vielleicht denkt sie, sie werde dafür bestraft, dass sie ihren Wunsch, Schauspielerin zu werden, öffentlich preisgegeben hat. Vielleicht denkt sie, sie habe so miserabel vorgesprochen, dass die Schauspielerin empfohlen hat, sie aus Leningrad zu verbannen.
»Nach Moskau?«, stammelt sie.
»Ja, nach Moskau«, sagt meine Mutter ungeduldig, weil sie die Worte, die sie nur mit Mühe über die Lippen gebracht hat, nicht noch einmal wiederholen möchte. »Elena Wladimirowna hat gesagt, du solltest die beste Schule besuchen und die Leningrader Schauspielschule sei nicht so gut.«
|55| 4
DIE DATSCHA
Meine Großeltern besuchen uns jeden Sommer. Von Juni bis September wohnen sie in unserer dreißig Kilometer von Leningrad entfernt gelegenen Datscha, einem kleinen Haus auf einem halben Hektar Land, umgeben von einem Holzzaun. Meine Mutter hatte kurz nach meiner Geburt, trotz der Zweifel meines Vaters hinsichtlich einer solchen zusätzlichen Verantwortung, die Idee gehabt, die Datscha zu erwerben. Ich bin bereits acht und kann mir genau vorstellen, wie es dazu kam. Das Kind braucht frische Luft, dürfte sie mit ihrer belehrenden Stimme verkündet haben, derselben Stimme, mit der sie mich auffordert, auch den letzten Krümel auf meinem Teller aufzuessen.
Mein Vater hat wahrscheinlich zunächst gezögert, da niemand gern das, wozu man von ihrer belehrenden Stimme aufgefordert wird, sogleich ausführt. Doch seine größte Leidenschaft war das Fischen, und die Datscha war nur vier Kilometer vom Finnischen Meerbusen entfernt, in dem man Hechte und Barsche und manchmal sogar Aale angeln konnte. In einem Ruderboot war er ganz in seinem Element, wobei er die Einsamkeit ungleich mehr genoss als
Weitere Kostenlose Bücher