Gordon
hatte nie davon gesprochen. Ich hatte nie einen Gedanken daran verschwendet; ich akzeptierte die Sache, genauso wie ich akzeptierte, dass die Erde rund war und sich um die Sonne drehte, was bedeutete, dass ich es nicht aus eigener Erfahrung wusste und nicht die geringste Neigung oder Neugier verspürte, der Wahrheit dieser Theorie auf den Grund zu gehen.
Plötzlich hatte ich von diesem ganzen Jargon genug. Vielleicht »identifizierte« ich mich mit der Schwester, weil ich das Gefühl hatte, dass meine Gastgeber sie wegen eines völlig natürlichen und lobenswerten Gefühls herablassend behandelten.
Ich sagte: »Ich werde Ihnen sagen, was es mit dem Ödipuskomplex Ihrer Zwillinge auf sich hat. Am Morgen gehen sie auf vier Beinen, am Mittag auf zwei und am Abend auf drei, und das gilt für sie wie für jeden anderen Menschen auch.«
Die Ehefrau starrte mich an und sagte: »Was meinen Sie damit?«
Ich sagte: »Das war das Rätsel, das die Sphinx ihm stellte, als er die Tore Thebens erreichte.«
»Wem?«, fragte sie.
»Ödipus«, sagte ich, »dem Gentleman, von dem Sie gerade gesprochen haben.«
»Das ist mir absolut neu«, bemerkte sie.
»Ganz so neu ist das nicht«, sagte ich.
»Ich hatte keine Ahnung«, sagte sie.
»Auch die Sphinx hat nicht schlecht gestaunt«, sagte ich, »als er das Rätsel löste.«
»Aber das hat nichts mit dem Ödipuskomplex zu tun«, sagte sie.
»Doch, natürlich«, sagte ich. »Wie können Sie den Ausdruck verwenden, wenn Sie nicht einmal die Geschichte kennen, die dahinter steht?«
»Meine Frau ist keine Psychiaterin«, sagte der Commissioner, »und selbst viele Psychiater kennen das Rätsel der Sphinx nicht.«
»Dann sind sie nichts anderes als Klempner.«
Der Commissioner wandte sich zu Gordon: »Das sollten Sie Crombie erzählen«, sagte er. »Er wäre begeistert. Kennen Sie schon seinen neuesten Einfall? Er meint, dass jeder, der die Ausbildung macht, mit den Meisterwerken der Literatur vertraut sein sollte.«
»Ich finde Ihre Freundin erstaunlich«, sagte die Frau. »So ein kleines Mädchen – als ich sie gesehen habe, dachte ich zuerst, sie könnte kein Wässerchen trüben. Aber sie hat durchaus ihren eigenen Kopf. Wie haben Sie sie eigentlich kennen gelernt?«
»Auf einer Bank in einem Garten«, sagte Gordon, »aber damals hatte sie noch gar nichts im Kopf.«
Ich spürte, dass er mich ansah. Ich wandte mein Gesicht ab.
Den Rest des Abends sagte ich kein Wort mehr und vertrieb mir die Zeit damit, mir vorzustellen, wie ein Dinner bei Crombie wohl sein mochte. Das Esszimmer war groß, hatte eine Stuckdecke und war mit imitierten Chippendale-Möbeln eingerichtet. Das Dinner umfasste wenigstens vier Gänge. Dr. Crombie bestand darauf, trotz der Lebensmittelrationierung. Die Gerichte waren konventionell und schlecht gekocht. Sardinen auf Toast, eine klare Suppe, dazu vielleicht einen australischen Sherry, gebratene Lammkeule mit Rosenkohl und Pommes frites und zuletzt ein Stilton-Käse, das Geschenk eines dankbaren Patienten, den Dr. Crombie von seiner Mutterfixierung befreit hatte. Jetzt liebte der Patient seine Mutter nicht mehr, und Crombie hatte den Stilton.
Um elf sagte Gordon zu mir: »Kommen Sie, mein armes Kind. Wir müssen gehen. Sie sind ganz blass vor Müdigkeit.«
Der Commissioner, der ein paar Minuten zuvor hinausgegangen war, kam in die Küche zurück und sagte: »Sie können nicht gehen. Draußen ist ein fürchterlicher Nebel. Heute Nacht kommen Sie nicht mehr nach Haus.«
Die Ehefrau führte mich zu einem Zimmer im dritten Stock. Ich half ihr, das Feldbett zu beziehen, und äußerte dabei die üblichen Floskeln des Bedauerns, ihr so viele Umstände zu machen.
Als sie gegangen war und ich mich ins Bett gelegt und das Licht gelöscht hatte, fragte ich mich, wo Gordon sei. Als ich nach oben gegangen war, war er unten geblieben. Ich blieb wach, horchte und hoffte, er würde kommen. Ich fügte zum Stilton-Käse noch Butter und Kekse hinzu. Auf Dr. Crombies Tisch kam nur richtige Butter; der ganze Haushalt, einschließlich des Dienstmädchens mit Krätze, sparte die Butterrationen für Crombie auf, weil der integre und intransigente Doktor auf der spitzenbedeckten Platte von schimmerndem Mahagoni keine Margarine duldete.
Am Morgen wurde ich von dem kleinen Mädchen geweckt, das mir anschließend dabei zusah, wie ich mich frisierte, mir die Haarnadeln reichte und den Inhalt meiner Handtasche umsortierte. Ich traf Gordon, zusammen mit dem kleinen Jungen, auf
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