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Gordon

Gordon

Titel: Gordon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Templeton
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wirklich nichts zu sagen«, wiederholte ich. »Ich kannte ihn überhaupt nicht. Ich habe ihn nur ein einziges Mal gesprochen, als ich neunzehn war.«
    »Quatsch«, sagte er, »natürlich kannten Sie ihn. Wie alt waren Sie, als er Sie verließ?«
    »Vier Jahre«, sagte ich, »aber eigentlich hat nicht er uns verlassen. Meine Mutter hat ihn verlassen, weil sie ihn nicht mehr ertragen konnte. Sie nahm mich und zog mit mir zu meiner Großmutter.«
    »Aber bis dahin lebte er mit Ihnen und Ihrer Mutter zusammen?«, fragte er.
    »Ja«, sagte ich.
    »Und da können Sie sich nicht an ihn erinnern?«, fragte er.
    »Nein, natürlich nicht«, sagte ich. »Ich war zu klein.«
    »Mumpitz«, sagte Gordon. »Natürlich können Sie sich an ihn erinnern.«
    »Nein, ich kann’s nicht, wenn ich’s Ihnen doch sage!«, rief ich.
    »Schreien Sie nicht herum«, sagte er. »Atmen Sie tief durch und beruhigen Sie sich. Worüber regen Sie sich so auf?«
    Ich blieb stumm.
    »Sie würden staunen«, bemerkte er, »woran Sie sich mit meiner Nachhilfe nicht alles erinnern könnten.«
    Ich erwiderte nichts.
    »Nun?«, sagte er.
    »Niemand hat je über ihn gesprochen«, sagte ich. »Ich erfuhr nur ein paar Details von meiner Cousine Sylvia. Unsere Väter waren Brüder. Ihrer beider Mutter wurde vom Blitz erschlagen. Und wohlgemerkt, sie war gerade im Haus und wollte eine Tür öffnen. Sie wurde durch die Metallklinke getroffen.«
    »Sie fühlen sich ziemlich angeschlagen, stimmt’s?«, fragte er.
    »Ja«, sagte ich.
    »So, als hätte Sie der Blitz getroffen?«, sagte er.
    »Ja«, sagte ich.
    »Und alles nur, weil ich Ihnen eine simple, freundliche Frage gestellt habe«, bemerkte er. »Ein Vater ist schließlich ein äußerst freundlicher Mensch. Oder etwa nicht?«
    »Ich habe keine Ahnung«, sagte ich.
    »Haben Sie sich nie nach ihm erkundigt?«, fragte er.
    »Nie«, sagte ich.
    »Warum nicht? Waren Sie nicht neugierig?«
    »Nein.«
    »Finden Sie das eigentlich normal?«
    »Warum nicht?«
    »Wollen Sie mir etwa einreden«, sagte er, »dass Sie, ein überdurchschnittlich intelligentes Kind, nie den Wunsch verspürt haben, etwas über Ihren Vater in Erfahrung zu bringen?«
    »Ich habe nie den Wunsch verspürt«, sagte ich.
    »Und Sie sind achtundzwanzig Jahre alt geworden, ohne sich je für ihn zu interessieren?«, fragte er. »Finden Sie das natürlich?«
    »Ich habe nie darüber nachgedacht.«
    »Wie alt war Ihr Vater zum Zeitpunkt Ihrer Geburt?«, fragte er.
    »Einundvierzig.«
    »Also ist er jetzt fast siebzig, richtig?«
    »Ja«, sagte ich.
    »Wo wohnt er?«
    »In Wien«, sagte ich, »und ich hoffe, das Glück ist ihm weiterhin hold.«
    Er sagte: »Aber als Sie mir von Ihrer Urgroßmutter und deren abstoßender gelber runzliger Hand erzählten, da haben Sie sich ganz hervorragend erinnert, muss ich sagen. Und das fragliche Erlebnis hatten Sie mit vier gehabt. Und dennoch behaupten Sie, Sie könnten sich an Ihren Vater nicht erinnern. Wirklich überhaupt nicht?«
    »Nein«, sagte ich. »Ich kann mich nicht einmal erinnern, wie er aussah.«
    »Und haben Sie nicht versucht, sich zu erinnern, wie er aussah?«, fragte er.
    »Nein«, sagte ich.
    »Aber vorgestellt haben Sie ihn sich«, sagte Gordon.
    »Sie wussten, dass er alt war, und Sie stellten sich gern vor, er sei schön. Alt und schön. Womit wir wieder da wären, wo wir angefangen haben. Alt und schön.«
    »Wenn Sie das noch einmal sagen, schreie ich«, sagte ich.
    »Jetzt gehen wir essen«, sagte er, »und dann stecke ich Sie ins Bett. Natürlich kein Sex und keine Grausamkeit!«

 
     
    12. KAPITEL
     
     
     
    W AS HABEN S IE EIGENTLICH GEGEN Ihren Vater?«, fragte Gordon, als ich am folgenden Abend zu ihm kam.
    »Er wollte mich nie haben«, sagte ich. »Als meine Mutter ihn verließ und wir zu meiner Großmutter zogen, hat er sich nie nach mir erkundigt. Im ersten Jahr schickte er mir zum Geburtstag ein Buch. Und dann kam überhaupt nichts mehr.«
    »Was ist er?«, fragte Gordon.
    »Er ist Doktor der Physik«, sagte ich. »Er hat ein paar sehr seltene akademische Grade. Aber er hat nie was daraus gemacht. Er ist ein Sonderling. Ein Exzentriker. Ihm liegt nichts daran, Geld zu verdienen oder auf Feste zu gehen oder Gäste zu empfangen. Er ist schon immer kalt und arrogant und schwierig gewesen, hat mir meine Cousine Sylvia erzählt. Und sie erzählte mir auch, er habe von Kaiser Franz Joseph eine Auszeichnung als bester Schüler des Jahres von ganz Österreich oder so was in der Art

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