Gorian 2
intensiver, von der Wirklichkeit nicht zu unterscheidender Tagtraum: Plötzlich befanden sich Gorian und Torbas an Deck eines Himmelsschiffs. Sie waren allein, außer ihnen beiden gab es keinerlei Besatzung. Die Segel hingen schlaff von den Masten, was aber charakteristisch für die Schiffe der Caladran war.
»Die metamagischen Raumzeitwinde bewegen dieses Gefährt, doch es bedarf eines starken Geistes, sie zu nutzen …«
Wessen Gedanken da zu ihm sprachen, wusste Gorian nicht. Vielleicht waren es seine eigenen Erkenntnisse, die wie ein geistiges Echo aus dem geheimnisvollen Reich zurückgeworfen wurden. Aber das spielte keine Rolle. Plötzlich wusste er, was zu tun war. Es erschien ihm vollkommen selbstverständlich. Das Himmelsschiff ließ sich mit Leichtigkeit manövrieren, allein durch die Kraft des puren Willens.
»Der Zauber der Gewichtslosigkeit ist so einfach, wenn man sein Geheimnis durchschaut hat. Man sieht es an den Schächten im Stadtbaum von Caladrania …«
Das Schiff erhob sich aus der See, deren Wellen es für eine Weile durchfurcht hatte, und stieg höher und höher.
»Wenn der lenkende Geist nicht stark genug ist, kann es sein, dass er mit dem Schiff strandet, irgendwo in einer fremden Raumzeit des unendlichen Polyversums, vielleicht sogar in einer Raumzeit, in der nur du allein existierst. Wie in jener Welt, die den Schattenmeistern bekannt ist …«
Gorian übergab Torbas die Steuerung des Schiffs, der das Wissen dazu mit überraschender Leichtigkeit aufnahm. Vielleicht hatte Gorian ihn unterschätzt. Doch irgendetwas schien seinem Gefährten zusätzliche magische Stärke zu verleihen.
Und dann verschwand das Schiff plötzlich unter Gorians Füßen. Innerhalb eines Herzschlags war es nicht mehr da – ebenso wie Torbas.
Gorian hatte das Gefühl zu fallen. Dann aber merkte er, dass dieser Zustand eher der Gewichtslosigkeit in den Schächten des Stadtbaums ähnelte.
»Der frei schwebende Geist … Das Ideal des Magiers Andir … Nur von wenigen für kurze Zeit erreicht …«
Schon drohte der Strom aus Wissen, Bildern und vielfältigsten Eindrücken seinen Geist zu überschwemmen, und er musste weitere Kräfte aufwenden, um sich stärker abzuschirmen. Wenn er als ein dem Wahn Verfallener aus dem Reich des Geistes zurückkehrte, war König Abrandirs Plan gescheitert. An Torbas dachte er kaum noch, obwohl die Sorge um ihn unterschwellig vorhanden war.
Für eine Weile war er von einem Chaos aus Farben, Formen und unverständlichen Schriftzeichen und Stimmen umgeben, aber dann klärten sich diese Eindrücke, ihm offenbarte sich der Sinn der geflüsterten Worte, die Schriftzeichen erschienen bekannt, ja, sogar vertraut.
» Alles, was du benötigst, liegt vor dir. Du brauchst nur auszuwählen …«
Die Gestalt des Namenlosen erschien vor ihm. Gorian brauchte einen Augenblick, ihn zu erkennen, denn er sah ihn als jungen Caladran, dessen Begehr es war, gleichzeitig die Künste der Magiergilde und die der Schamanen zu erlernen, was sich traditionellerweise eigentlich ausschloss. Ein junger Mann, der einer Lehre anhing, der zufolge der Einzelne das Schicksal und den Verlauf der Gestirne zu bestimmen vermochte und Mitleid mit Menschen und anderen schnellsterblichen Wesen keine Zeitverschwendung oder Ausdruck von Schwäche war.
Diese Anschauung hatte einen tiefen Graben durch das Volk der Caladran gezogen, der seine unübersehbaren Spuren im Reich des Geistes hinterlassen hatte, zumal der Namenlose seinen Worten auch Taten hatte folgen lassen, indem er dem Greifenreiter-König Song Mol half, die Feuerdämonen zu besiegen.
Den Namen des Renegaten vermochte Gorian nirgends zu entdecken. Vielleicht war es ihm gelungen, ihn vollständig aus dem Reich des Geistes zu tilgen. Vielleicht aber hatten dies auch seine Gegner getan, die nach dem Diebstahl der magischen Schriften die Oberhand gewonnen und die Lehre des Renegaten zur Irrlehre erklärt hatten.
Auch diese aus dem Reich des Geistes zu verbannen war nicht möglich, aber sie galt von nun an als verpönter Irrtum eines Verräters, der sich von den Caladran losgesagt hatte.
Ein anderer Caladran erschien Gorian, ebenfalls jung, kaum zehn Jahre alt, aber in einer Epoche geboren, in der das Renegatentum des Namenlosen und der Raub der Schriften nur noch ein dunkler Fleck in der Geschichte der Caladran waren. Ein Junge noch – und doch waren die Gesichtszüge bereits sehr charakteristisch. Vor allem das überlegen wirkende Lächeln.
Morygor
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