Gorian 2
lächelte. »Nur ein leicht abgewandeltes Axiom unseres Ordens, das du auch kennen solltest.«
Der Maskierte erhob sich. »Ich nehme an, die letzten Zweifel, wen Ihr vor Euch habt, sind nun beseitigt, König Abrandir.«
»Schweigt«, sage Abrandir.
»Nein!«, widersprach der Maskierte. Und nahm mit ein paar schnellen Handgriffen die Maske ab.
König Abrandir schrie auf und blickte schnell zur Seite, um sich diesem Anblick nicht auszusetzen.
Auch Gorian erschrak, als er das furchtbar entstellte Gesicht sah, das bisher unter der Maske verborgen gewesen war.
»Setzt Eure Maske wieder auf!«, bat Abrandir.
»Die Maske zeigt mein Gesicht, so wie es war, bevor mich einer Eurer Ahnen foltern und so schrecklich entstellen ließ. Lange ist es her, und Eure Vorfahren haben all das aus ihren Gedanken und ihrem Reich des Geistes zu verbannen versucht: mein Gesicht, so wie es war und wie es entstellt wurde, ebenso wie meinen Namen und dass nicht die Caladran die Stadtbäume haben wachsen lassen. An all das sollte nie wieder jemand denken. Aber nachdem ich Euch mein Gesicht gezeigt habe, wird es erneut in Eurem Reich des Geistes erscheinen, König Abrandir, und all die Erinnerungen an die Wahrheit werden an die Oberfläche kommen.«
Ein Strom intensiver Gedanken ging von dem Maskierten aus, Bilder, Eindrücke, Erinnerungen. Vieles davon kannte Gorian aus dem Reich des Geistes der Caladran, allerdings ließen die Gedanken des Maskierten manches in einem anderen
Zusammenhang erscheinen oder fügten dem Mosaik der Vergangenheit einige entscheidende Steinchen hinzu.
Demnach waren die Caladran, als ihre Himmelsschiffe Ost-Erdenrund erreichten und sie die Sonnenflüchter in einem blutigen Krieg vertrieben, auch auf eine abgeschieden lebende Gemeinschaft eines magiebegabten unsterblichen Volkes gestoßen, dessen Angehörige sechs Finger an jeder Hand hatten. Seinen eigenen Legenden nach hatte dieses Volk einst ganz Erdenrund beherrscht. Aber das war so lange her, dass selbst die ältesten Legenden der Caladran-Vorfahren darüber nichts überliefert hatten.
Die Sechsfingrigen hatten sich auf die Kunst verstanden, Stein wachsen zu lassen. Sie waren es gewesen, die die Stadtbäume erschaffen hatten, wenn auch im Dienste und nach den Wünschen der Caladran.
»Verschone mich damit!«, flehte Abrandir. »Ich war noch nicht geboren, als das Schreckliche geschah!«
»Weder Rettung noch Zukunft ohne Wahrheit!« , entgegneten ihm die Gedanken des Maskierten mit aller Entschiedenheit. » Die Wahrheit lässt sich im Reich des Geistes auf Dauer nicht verbergen, das wisst Ihr am besten!«
»Die Wahrheit ist, dass in allen Stadtbäumen eine unbegründete Furcht um sich griff«, sprach nun der Namenlose. »Die Furcht vor der überlegenen Magie der Sechsfingrigen – und davor, dass man aufgrund ihrer Dienste in Abhängigkeit geraten könnte. Die Magiergilde fürchtete um ihren Einfluss, die Schamanen ebenso. Und was wäre, würden sich die Sechsfingrigen auf die Seite einer feindlichen Macht schlagen? Als dann eines der Himmelsschiffe in einem weit entfernten Gebirge eine verborgene, aus Stein gewachsene und mit Magie abgeschirmte Stadt entdeckte, kam das Gerücht eines geheimen Reiches der Sechsfingrigen auf. Furcht
wurde zu Hass, der sich entlud, und die Sechsfingrigen wurden getötet. Nur einer von ihnen konnte mit knapper Not entkommen, nachdem man ihm schrecklich mitgespielt hatte.«
Sogar im Heiligen Reich erzählte man sich Legenden über die Sechsfingrigen, und Gorian wusste, dass es in der Ordensbibliothek auf Gontland einige Bände darüber gegeben hatte. Sie galten als magisch begabte Schreckensgestalten aus der Zeit, bevor sich der Glaube an den Verborgenen Gott durchgesetzt hatte. Nach der Lehre der Priesterschaft gab es eine Reihe von üblen Dämonen, die sechs Finger an jeder Hand hatten und die Menschen vom Glauben abbringen wollten. Kinder, die mit einem zusätzlichen Finger oder Zeh zur Welt kamen, waren in Thisilien und Estrigge immer schon gleich nach der Geburt getötet worden, und in vielen anderen Menschenländern herrschten ähnliche Sitten. Es war also kein Wunder, dass der Maskierte seine Hände stets verborgen gehalten hatte, denn zweifellos hätte ihm andernfalls nicht nur unter den Caladran ein schlimmes Schicksal bevorgestanden.
»Was habt Ihr damit zu tun, Renegat?«, fragte König Abrandir. »Habt Ihr Euch nicht von Eurem Volk und damit von aller Schuld losgesagt?«
Statt dass der Namenlose antwortete,
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