Gotland: Kriminalroman (German Edition)
Fünfzig-Öre-Stück.«
12
Elin Traneus ließ ein Aspirin in das Wasserglas auf ihrem Nachttisch plumpsen. Noch hatte sie keine Kopfschmerzen, aber sie lauerten bereits. Im Moment war ihre ganze Welt in einen grauen Nebel eingehüllt, aber allein das Geräusch der sich auflösenden Tablette machte sie munterer.
Sie sah sich in der lächerlich kleinen Wohnung um, in der sie seit Neujahr wohnte. Das Zimmer, in dem sie schlief, lernte, Freunde traf und fernsah, war ungefähr fünfzehn Quadratmeter groß. Darüber hinaus gab es eine flurähnliche Küche, einen verwinkelten Flur und ein winziges Badezimmer. Die Wohnung lag im dritten Stock eines Hauses im Atterbomsvägen in Fredhäll. Und Fredhäll lag eigentlich in Kungsholmen, aber sie hatte schnell kapiert, dass die Innenstadtbewohner der Hauptstadt das anders sahen.
»Ach so, in Fredhäll«, hatten sie freundlich berichtigt, wenn sie erzählte, wo genau sie in Kungsholmen wohnte. »Atterbomsvägen, das ist doch superschön.« Das hatte sie auch schon kapiert. Die zentrumsnahen Vororte waren immer »superschön«. Total daneben, aber superschön. In weiter entfernten Vororten war es nicht superschön, sondern höchstens »nett«, und Käffer wie Alby und Tensta wurden gar nicht erwähnt.
Das Haus lag hübsch auf einer Anhöhe mit Blick auf den Riddarfjärden. Von ihrer Wohnung aus konnte Elin allerdings nur die hellgelbe Fassade des Nachbarhauses sehen.
Obwohl in ihrem Elternhaus die Kleiderschränke so groß gewesen waren wie ihr jetziges Wohn- und Schlafzimmer, fühlte sie sich pudelwohl. Die Ansichten der Stockholmer interessierte sie nicht die Bohne. Es war schließlich ihr Leben.
Die Kopfschmerztablette hatte sich aufgelöst. Elin trank das Glas in einem Zug leer und griff nach ihrem Handy. Sie wählte die Nummer ihrer Mutter, wartete aber vergeblich darauf, dass diese ans Telefon ging.
»Scheiße.« Sie schleuderte die Bettdecke weg.
Seit gestern Nachmittag versuchte sie, ihre Mutter zu erreichen, aber die schien zu ahnen, dass Elin sich drücken wollte, und weigerte sich offenbar, ihren Anruf entgegenzunehmen. Elin sah auf die Uhr auf dem Display. Keine Chance, die Fähre noch zu erreichen. Sie überlegte, ob sie Ricky anrufen und ihm das Problem überlassen sollte, beschloss dann aber, zum Flughafen Bromma zu fahren. Dort bekam man fast immer ein Stand-by-Ticket.
Sie zog den Schlafanzug aus und stellte sich nackt vor den Flurspiegel. Ihre eigentlich aschblonden Haare waren schwarz gefärbt. Ihre Geschwister hatten das richtige Blond geerbt, sie das langweilige. Ansonsten fand sie sich ganz okay, auch wenn der Busen zu mickrig und der Bauch nicht ganz flach war. Klein war sie auch. Unter großen Frauen mit hohen Absätzen kam sie sich äußerst unscheinbar vor. Aber viele Typen mochten kleine Frauen. Bei denen fühlten sie sich männlicher.
Nicht, dass sie viele Verehrer hätte. Sie hatte nur wenige und kurze Beziehungen gehabt, und meistens war sie diejenige, die Schluss machte. Sie durfte sich also nicht beklagen. Sie wollte eben verführt werden. Immer. Jedes Mal. Warum glaubten die Typen immer, sie hätten einen Freifahrtschein, wenn sie sie einmal rangelassen hatte? Sie hatte keine Lust, mit jemandem zu schlafen, der nicht bereit war, sie jedes Mal aufs Neue zu erobern. War das zu viel verlangt?
Sie verspürte den Impuls, zurück ins Bett zu kriechen und sich selbst zu befriedigen, aber dafür war jetzt keine Zeit hatte. Sie musste duschen.
Vor ungefähr einer Woche hatte ihre Mutter angerufen und erzählt, dass ihr Vater nach Hause kommen würde. Sie wollte, dass Elin nach Gotland kam. Elin hatte weder zu- noch abgesagt. Es hinge davon ab, wie sie mit dem Lernen vorankomme. Ihre Mutter hatte wie immer geantwortet, sie könne die Bücher doch mitbringen und dort lernen. Es sei doch so gemütlich …
Als ob sie in diesem Haus je die Ruhe gehabt hätte, mehr als zwei Zeilen zu lesen. Aber das sagte sie nicht. Sie würden wieder voneinander hören. Mama rief wieder an und nervte, und Elin versprach zu kommen. Doch als sie schlussendlich absagen wollte, konnte sie ihre Mutter nicht erreichen. Nun traute sie sich nicht mehr, eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter zu hinterlassen.
»Es wäre so nett, mal wieder mit der ganzen Familie an einem Tisch zu sitzen. Das haben wir seit Ewigkeiten nicht gemacht.«
Wie konnte sie so etwas sagen? War das etwa ihr Ernst?
Elin drehte das kalte Wasser auf und hielt das Gesicht in den Strahl. Sie bekam
Weitere Kostenlose Bücher