Gott oder Zufall?
materielle Welt die Schöpfung eines guten Gottes gewesen sei.
Während des Mittelalters wurde die Vorstellung vom »Buch der Kreaturen« Allgemeingut. Es hieß, Gott habe die gesamte geschaffene Ordnung mit symbolischen Bedeutungen belegt, die eine große Palette an tiefen theologischen Wahrheiten widerspiegeln. Christliche Lehren wurden mit speziellen – mythischen und realen – Geschöpfen wegen ihrer äußeren Erscheinung, bestimmter Eigenschaften und Verhaltensweisen in Zusammenhang gebracht. Der Pelikan symbolisierte demzufolge die Sühne Christi für die Menschen – aufgrund des weitverbreiteten Glaubens, dass Pelikane ihre toten Jungen mit ihrem Blut wieder lebendig machen könnten. In ähnlicher Weise galt der Phönix als Zeichen für die Auferstehung, während der Löwe und das Einhorn Christus repräsentierten. Andere Lebewesen symbolisierten die Listen des Teufels oder besondere Tugenden, die es nachzuahmen galt. Hugo von St. Victor (ca. 1078–1141) erfasste das Wesentliche dieser symbolischen Weltsicht, als er feststellte: »Die ganze sinnlich wahrnehmbare Welt ist wie ein Buch, geschrieben vom Finger Gottes«, in dem die einzelnen Geschöpfe wie Figuren sind, »die nicht nach menschlichem Beschluss, sondern durch den göttlichen Willen aufgerichtet worden sind, um die Weisheit des unsichtbaren Wesens Gottes zu offenbaren«. Ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal der »Buch der Natur«-Metapher in dieser Zeit war die Art und Weise, mit der der weitverbreitete Gebrauch der allegorischen Interpretation eine enge Verknüpfung zwischen der Auslegung der Bibel und der Auslegung der Natur bot. Bibel und Natur konnten beide allegorisch interpretiert werden, und wenn das auf diese Weise geschah, bezeugten sie dieselben Wahrheiten.
Mit dem Aufkommen der modernen Wissenschaft im 17. Jahrhundert lebte die Metapher der »zwei Bücher« weiter und breitete sich sogar noch aus. Dennoch nahm sie nun einen etwas anderen Charakter an. Galileo erklärte in einer berühmten Passage, das Buch der Natur sei in der Sprache der Mathematik geschrieben, und nur wer in Mathematik bewandert sei, könne es lesen. Dies signalisierte eine erhebliche Abweichung von dem früheren Ansatz, bei dem Natur und Bibel zusammen als Teil einer vereinten Interpretationsmethode »gelesen« wurden. Darüber hinaus fiel nun die Lektüre des Buches der Natur zunehmend in den Aufgabenbereich wissenschaftlicher Experten. Der theologische Inhalt des Buches der Natur wurde außerdem radikal geschrumpft, da die Leser der Natur jetzt die Wahrheiten über Gott nur aus ihrer Erfahrung der Welt ableiten konnten. Wie es Francis Bacon zum Ausdruck brachte, zeigt das Buch der Natur zwar die Macht des Schöpfers, aber nicht dessen Abbild. Das Buch der Natur erzählt nach diesem neuen Verständnis von Gott, dem Mathematiker, oder von Gott, dem genialen Designer, aber es berichtet nicht vom dreifaltigen Gott, der in Christus Fleisch geworden ist. Die weite Verbreitung der »zwei Bücher«-Metapher im 17. und 18. Jahrhundert illustriert dennoch die damals existierende enge und konstruktive Beziehung zwischen den Naturwissenschaften und dem Christentum. Viele Naturhistoriker sahen sich an einem Unternehmen beteiligt, das für die natürliche Theologie bedeutende Erträge spenden würde. Auf diese Weise unterstrich der Gedanke vom Buch der Natur die theologische Bedeutung der Naturwissenschaft und heiligte die Bemühungen derjenigen, die sich mit ihm befassten.
Seit dem 19. Jahrhundert aber kam die Metapher außer Gebrauch. Die natürliche Theologie rief allmählich die Kritik der Philosophen – und zunehmend auch der Theologen – hervor. In diesem Zusammenhang schien das Design-Argument – wie es traditionell verstanden wurde – weniger glaubwürdig als die Evolutionstheorie durch natürliche Selektion zu sein, die nahezu allgemein akzeptiert wurde. Zudem stellten die Professionalisierung und Unterteilung der Wissenschaften die Vorstellung eines einzigen, einheitlichen »Buches der Natur« in Frage. Zur selben Zeit überprüfte die Bibelkritik den Gedanken einer Einheit vom »Buch der Schrift« – in Sinn und Aussage eindeutig. Dennoch hat dieser Terminus einen langen und interessanten Weg hinter sich – einen, der aufschlussreiche Erkenntnisse in die historischen Zusammenhänge zwischen Wissenschaft und Religion bietet. Schließlich umhüllt diese Metapher das, was sicher noch immer die Überzeugung des religiös Gläubigen sein muss: dass
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