Gott und die Staatlichen Eisenbahnen
der englischen Aufschrift: »Empfänger unbekannt«. Niemand war überrascht, denn Mr. Schtscheparenko war durch Mr. Stabawoij abgelöst worden, von dem die CIA überhaupt nichts wußte.
Vielleicht war das Mikrophon im Kronleuchter doch eines von ihren gewesen.
Die Attentäter
In welchem Alter sollten Attentäter sich zur Ruhe setzen? Diese bohrende Frage beschäftigte Monsieur Ambroise Plageot, den jüngst ernannten Leiter der Abteilung Eloignement bei der französischen Sûreté. Die Aufgabe dieser Abteilung besteht darin, Leib und Leben ausländischer Würdenträger zu schützen, die auf Besuch in Frankreich weilen. Zu diesem Zweck werden alle potentiellen Attentäter zusammengetrieben und für eine Weile verschickt. Monsieur Plageots Stirn zog sich in Falten, als er von dem Aktenstapel vor sich aufblickte und die Gestalt des Mannes musterte, der ihm gegenübersaß.
»Sie sagen, Sie hätten eine angenehme Beziehung zu meinem Vorgänger gehabt, zu Monsieur Latille?«
»Oh, ja, Monsieur. Es war für uns alle ein Schlag, als er in Pension ging.«
»Für Sie alle? Gibt es denn noch mehr von Ihnen?«
»Sechs, insgesamt. Mitglieder der Nihilistischen Internationale.«
»Der Nihilismus ist tot. Schon seit der Jahrhundertwende.«
»Das glauben viele Leute.«
Plageot seufzte. Halb war er belustigt, halb verwirrt, aber als guter Staatsbeamter konnte er sich nicht leisten, seine Gefühle zu zeigen. Sein Blick wanderte erneut über die Dokumente. Das früheste datierte vom 18. Juli 1903. Es war vergilbt und brüchig. Daran angeheftet war das altehrwürdige Photo eines Jugendlichen mit mächtiger schwarzer Mähne, dessen langer Hals aus einem etliche Nummern zu weiten Schillerkragen ragte. Sein Name war Bratko Zvoinitch. Die enge, nervöse Handschrift eines längst verstorbenen Polizisten verkündete, daß er – auf Ersuchen des Generalkonsuls von Montenegro – als mutmaßliches Mitglied einer terroristischen Organisation verhaftet worden war.
Mit spitzen Fingern blätterte Plageot die übrigen Papiere in der Akte Zvoinitch durch. 1910, als er erneut verhaftet wurde, nannte er sich Bruno Silberberg.
»Warum haben Sie den Namen Silberberg angenommen?«
»Habe ich das? Oh, wissen Sie, ich hatte so viele Namen in meinem Leben, daß ich mich wirklich nicht mehr erinnern kann.«
»Warum wählten Sie Silberberg? Sie sind doch kein Jude, oder?«
»Wäre ich es, dann hätte ich mich kaum Silberberg genannt. Man muß schon ein Goi sein, um freiwillig einen jüdischen Namen zu wählen. Ich habe gelegentlich, glaube ich, einen jüdischen Namen gewählt, um mich stärker mit dieser großen, verfolgten Rasse zu identifizieren. Revolutionäre können nur existieren, wenn sie in der Minderheit sind. Sie sind das lebende Gewissen der Menschheit. Sie sind Vorläufer des Fortschritts, Märtyrer, die den Weg bahnen. Sie setzen den Traum in die Tat um, statt faul auf die Realität zu warten, die vielleicht erst ein Jahrhundert später folgt.«
»Verstehe.«
Plageot blickte über seine Brille und verglich das Gesicht des schwarzhaarigen Jungen auf dem Photo mit der verrunzelten und asthmatischen Gestalt vor ihm. Kein Haar war übriggeblieben, keine Strähne, nicht die Spur einer Haarwurzel. Der Kopf war blank poliert und durch irgendein Mißgeschick in eine steife, vornübergebeugte Haltung fixiert. Seine Unfähigkeit, den Kopf zu bewegen, die Falten in seinem Nacken und seine großen, haubenförmigen Augenlider, eines davon wie ein Segel über dreiviertel seines rechten Auges gewölbt, gaben ihm das Aussehen einer Schildkröte, weise und zugleich lächerlich. Das Firmenetikett seines Jacketts war deutlich sichtbar, denn das Kleidungsstück bauschte sich von selbst auf, um Fleisch zu umhüllen, das nicht mehr da war. Sein unentwegtes Lächeln wirkte weniger humorvoll als vielmehr ironisch, als erwarte er nicht viel von den Menschen. Die harten Linien um seine Mundwinkel verrieten jedoch, daß er gewöhnt war, mehr zu nehmen, als sie ihm anboten. Etwas Levantinisches lag in der beklemmenden Liebenswürdigkeit seines Ausdrucks, eine Art Resignation, eine Nähe zur Geschichte, eine nach Jahren heftig lodernder Glut übriggebliebene Schläfrigkeit, Geringschätzung des Werts materieller Dinge und eine müde Verbitterung über alles Zeitliche. Wenn er sprach, war es mit einer kaum hörbaren Stimme, verstopft von Staub und schwarzem Tabak. Seine Worte bildeten sich weich aus keuchenden Atemzügen und klangen, als kämen sie aus weiter
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