Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gott wuerfelt doch 1

Gott wuerfelt doch 1

Titel: Gott wuerfelt doch 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lutz Kreutzer
Vom Netzwerk:
hätte doch sein
können, dass Vater überhaupt keine Schlüsselfigur geworden wäre. Was wäre dann
geschehen?“, fragte ich mit zitternder Stimme.
    „Nichts wäre
geschehen. Ich wäre nie zum Einsatz gekommen“, konstatierte Konrad mit jovialer
Geste und lehnte sich zurück.
    „Das ist doch
völlig unglaubwürdig, dieses Risiko ist doch den ganzen Aufwand nicht wert! So
ein Quatsch!“, protestierte ich.
    „Siehst du, genau
deshalb wird die DDR vom Westen unterschätzt. Weil man bei uns das für euch
Undenkbare nicht ausschließt. Aber das Undenkbare ist stets nur aus eurer Sicht
undenkbar! Und das ist euer Fehler! Du hast keine Ahnung, wie absurd in der DDR
gearbeitet wird.“ Konrad war ungehalten, beruhigte sich aber sofort. „Sie haben
beispielsweise ein Geruchsarchiv. Man hat sowohl von verdächtigen wie von
berühmten Persönlichkeiten getragene Kleidungsstücke in Einmachgläser luftdicht
verpackt in der Hoffnung, eines Tages mit den Körpergerüchen etwas anfangen zu
können. Ein weiterer Baustein unserer absoluten Kontrolle.“
    „Ja, solche absurd
anmutenden Ideen habt Ihr lückenlos von den Nazis übernommen“, sagte ich
verächtlich. „Nur die braunen Etiketten sind rot umlackiert worden.“ Konrad
nickte resigniert. Ich machte eine Pause. „Und wieso kennst du diese ganze
Geschichte so gut? Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie gerade dir die
Geburts- und Entführungsgeschichte erzählt haben.“
    Er lächelte kurz.
„Du hast Recht! Es war die Krankenschwester, die mir als Ersatzmutter zugeteilt
wurde. Sie war stets sehr liebevoll zu mir. Die Stasi war darauf bedacht, auch
mir viel Liebe und Zuneigung zukommen zu lassen, denn unsere Charaktere sollten
sich ja ähnlich entwickeln. Ich habe sie lange Zeit für meine Mutter gehalten.
Sie hat mir in schwachen Stunden Einiges erzählt. Ich bin sozusagen ...“, er
rang nach Worten und ruderte mit den Händen, „... in zwei Systemen gleichzeitig
aufgewachsen: im System der DDR und in deinem System des Westens!“ Er
beobachtete mich abwartend. „Weil es ihr Ziel war, mich so werden zu lassen wie
dich. Eines Tages begann ich zu vergleichen. Und denkende Menschen vergleichen
und kombinieren eben. Walter, vergiss nicht, dass ich auch deine Intelligenz
besitze.“
    Ich nickte
verhalten. Was er mir da alles berichtet hatte, wollte sich in meinem Kopf
nicht ordnen. Ich überlegte, ob meine Welt je groß genug gewesen war, Dinge,
von denen Konrad erzählte, auch nur anzudenken. War mein Leben von einem
Zuckerschleier überzogen? War ich etwa betrogen worden um die Erfahrung von
Bitterkeit und Armut, geprellt um die Erkenntnis von Unverständnis und
Handlungsunfähigkeit? War die Welt etwa doch eine Paarung aus gut und schlecht,
wunderbar und entsetzlich, aus lieblich und grausam, groß und kümmerlich? Der
Himmel musste der Hölle näher sein, als ich früher geglaubt hatte. Das hatte
Annas Verschwinden mich bereits gelehrt. Und doch: Was Konrad nun berichtete,
rüttelte mich endgültig wach. Verdammt sei die Wahrheit der Welt, die mich
jetzt einzuholen begann!
    Ich betrachtete die
Iris in seinem linken Auge, in der sich das Licht der kleinen Lampe spiegelte,
die über dem Tisch hing. „Konrad, warum erzählst du mir das alles?“
    Konrad zog seine
Hände zurück und stockte. Er holte tief Luft und rang mit sich, bevor er sagte:
„Mich hat etwas überrollt, womit sie nicht gerechnet haben.“
    „Was meinst du?“,
fragte ich scharf.
    „Als ich unsere
Eltern zum ersten Mal sah, ich meine, in natura sah“, er schluckte, „kam in mir
etwas auf, das ich bis zu diesem Zeitpunkt nie gekannt hatte. Ich habe sie
mehrmals so beobachtet, dass sie nichts davon merken konnten. Ich war
hingerissen von dem Gedanken, eine richtige Familie zu haben. Mir wurde
schlagartig klar, dass ich dazugehören wollte; ich habe dich beneidet um all
das, was ich sah, und mein Wunsch, du zu sein, wurde immer stärker. Ja, ich
freute mich auf den Zeitpunkt, endlich an deine Stelle treten zu können und
dich endlich los zu sein. Bis dahin war alles genau so kalkuliert.“
    Ich schwieg
betreten und wartete ab. „Und?“
    „Nun …“, sagte er
und räusperte sich kurz, „und dann habe ich dich zum ersten Mal gesehen. Und
dann wusste ich …, „er wurde rot, „na dann wusste ich, dass ich Dich niemals
töten könnte.“ Er schüttelte kaum merklich den Kopf. „Niemals!“ flüsterte er.
    Lange sah ich ihn
an. Er hob den Kopf und lächelte. Und jetzt erschrak ich vor mir

Weitere Kostenlose Bücher