Gott wuerfelt doch 1
stand mit gesenktem Kopf vor dem Auto, das uns trennte
wie eine Mauer.
„Konrad, bitte! Ich
bin dein Bruder, dein Zwilling!“
Als ich das sagte,
wurde sein Gesicht zur Hülle der Abscheu. „Das ist es ja!“, schrie er. „Das ist
es ja gerade! Ich verfluche dich, denn das hat mich zerstört, wir haben
dieselben Gene! Aber ich fühle mich, als seien deine mit Schokolade überzogen
und meine mit Scheiße! Ich bin wie du, doch du hast den Zucker in den Arsch
geblasen bekommen. Meine Seele wurde dagegen abgetötet. Wie ich dich hasse!“
Konrad setzte sich
erschöpft auf einen Stein, der am Rande der schmalen Straße aus seiner Umgebung
herausragte. Seine Beine ließ er über die Böschung hinabhängen, so dass er mir
den Rücken zuwies. Seinen Kopf hatte er gesenkt, seine Arme auf die Knie
gestützt. Er sah jetzt aus wie ein kleiner Junge - wie ich, wenn ich in Köln
auf der Kaimauer gesessen hatte. Ach, wie hätte ich mir gewünscht, ihm schon
als Kind begegnet zu sein! Doch all diese Vorstellungen waren Unsinn, denn wir
waren hier auf Kreta, warum auch immer, wir waren weit weg von diesen Wünschen,
denn die Realität war unsere Begleiterin und vergrößerte meine Angst.
Ich hockte mich
neben ihn. „Konrad, was ist los mit dir?“ Sein Blick blieb starr. Ich spürte,
dass er eine Weile brauchen würde.
„Konrad, rede mit
mir, ich bin dein Bruder! Ich hänge an dir! Du darfst dich nicht aufgeben! Du
hasst nicht mich, sondern du hasst die Situation. Und ein Trinker bist du auch
nicht. Du kannst jederzeit aufhören, das weiß ich, denn du hast dieselben Gene
wie ich, und Alkoholismus ist nun mal genetisch vorgeprägt“, sagte ich leise
und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Konrad seufzte und atmete tief. Ich
zog meine Hand zurück und sah in dieselbe Richtung wie er es tat. Dann begann
er leise zu erzählen.
„Drüben bin ich
jemand, der viel weiß und viel kann. Sie haben mich ausgebildet. Aber ich habe
gemerkt, dass es eine andere Welt gibt. Entschuldige, ich bin wohl ein wenig
durcheinander geraten. Eure Welt ist ganz einfach völlig anders. Ihr habt
andere Werte!“, sagte er und wirkte unbeholfen dabei.
„Sind sie
schlechter als eure?“, fragte ich.
„Ja ... und nein.
Unsere Werte sind sicher besser, aber unsere Welt ist unehrlich und verlogen.
In Wirklichkeit vertritt diese Werte niemand. Aber ich glaubte an sie,
zumindest in ihrer Theorie. Vielleicht sind sie zu groß, zu hochgesteckt“,
gestand er und klang verzweifelt, „als dass sie lebbar wären. Vielleicht sind
die Menschen für den Sozialismus nicht geschaffen, aber die Ideologie ist es
wert, ausprobiert zu werden. Vielleicht sind wir ein groß angelegter Versuch.
Ich weiß es nicht.“
„Wir werden sehen
müssen, was daraus wird: Bisher habt ihr euch gut gemacht, zumindest
weltpolitisch“, lachte ich verhalten und verspürte echte Liebe für ihn.
„Aber es kriselt an
allen Ecken. Ich habe das Gefühl, dass wir verlieren; aber dass wir gerade
gegen euch verlieren müssen, macht mich krank.“
Konrad war
resigniert. Wie konnte mein Bruder, den ich bisher als starken Menschen kannte
(und das hatte mich keineswegs überrascht!), so sein, wenn er nicht wirklich
tief zerrissen war?
„Konrad, wir werden
es schaffen! Ich will dir helfen, und du musst mir helfen! Ich habe dich immer
gespürt. Ich wusste, dass es dich gibt, nur hat man mir nie geholfen, das auch
zu sehen.“
Konrad erhob sich
und sah auf mich herab. „Ich kann in deiner Welt nicht leben. Man hat mich eine
andere Ideologie gelehrt. Ich hätte niemals Schwierigkeiten damit gehabt, ich
hätte dich nur nicht kennen lernen dürfen. Ich war zu schwach, meinem Bruder zu
widerstehen. Du hast alles durcheinander gebracht.“
Konrad gestand mir
sein wahres Denken, und es machte mir Angst, wie er in der Vergangenheitsform
sprach.
„Wie ist es
möglich, dass du und deine Ausbilder annehmen konntet, dass der Betrug nicht
auffliegen würde, wenn du in meine Rolle geschlüpft wärst?“, fragte ich ihn.
„Sie haben mich
gelehrt, wie du denkst und wie du bist. Wenn ich irgendwann mal von meinen
Eltern sprechen müsste, sollte ich mir meinen Ziehvater und meine Ziehmutter
vorstellen. Dann sollte ich meine Gefühle zu ihnen auf deine Eltern
projizieren, dann, so sagten sie, würde man mich niemals überführen können,
weil meine Gefühle echt erscheinen würden. Wenn ich in Deine Rolle geschlüpft
wäre, sollte ich stets meine eigenen Gefühle auf deine Erlebnisse
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