Gottes kleiner Finger - [Thriller]
verbittert.«
Ein trauriges Lächeln erschien auf Razias Gesicht.
»Großmutter hoffte, Mutter würde das tun, was sie selbst nicht hatte tun können«, erzählte Razia. »Aber Mutter wurde ein sehr konservativer Mensch, eine richtige Traditionalistin. Sie sagte sogar, sie wolle eine arrangierte Ehe. Nun, dazu kam es nicht, weil sie sich in meinen Vater verliebte. Als aber meine Großmutter sah, dass sogar das Funktionsprinzip eines Schraubenschlüssels meiner Mutter ein Rätsel blieb, begann sie stattdessen mich anzuspornen. Weil ich kapierte, wie ein Schraubenschlüssel funktioniert.«
Razia musste lachen.
»Und ich war, zum Entsetzen meiner Mutter, viel aufgeschlossener als sie.«
»Und dein Vater?«, fragte Katharine. »Hat er dich angespornt?«
Razia dachte einen Augenblick über die Frage nach, bevor sie antwortete.
»Auf eine Art ja, auf eine Art nein. Er war ein Freidenker und meinte, dass jeder Mensch seine eigene Berufung finden müsse. Der Stimme seines Herzens folgen, sozusagen. Das tun, was die innere Stimme ihm befiehlt.«
»Er war bestimmt ein guter Vater.«
Razia nickte.
»Eigentlich können die Eltern niemals etwas anderes machen, als das zu akzeptieren, was ihre Kinder zu tun beschließen. Unabhängig davon, ob das ihren eigenen Vorstellungen entspricht. Wenn sie das tun, sind sie gute Eltern. Tun sie es nicht, verfluchen sie gleichsam ihre Kinder und zugleich sich selbst. Das ist wohl der sicherste Weg in ein verbittertes Greisenalter.«
Stimmt, dachte Katharine.
»Na, um der Wahrheit die Ehre zu geben, war auch mein Vater nicht so schrecklich begeistert von dem, was ich machen wollte. Er war ein Dichter, er machte sich nichts aus Technik. Aber er stammte aus dem Iran und war ein Anhänger Zarathustras, sodass die Sonne ihm viel bedeutete. Er schrieb Dutzende von Gedichten an die Sonne, sodass wenigstens eine Sache uns verband. Das Interesse an der Sonne. Aber in einer Hinsicht habe ich natürlich ihnen beiden eine bittere Enttäuschung bereitet.«
Katharine ahnte, dass sie jetzt zu einem für Razia heiklen Thema kamen.
»Du brauchst es mir nicht zu erzählen, wenn du nicht willst«, sagte Katharine.
Razia zögerte.
»Ach, du errätst es sowieso. Ich war das einzige Kind meiner Eltern. Sie hätten gewollt, dass ich heirate und Kinder bekomme, sodass ihr Geschlecht nicht erlosch. Aber das hat einfach nicht geklappt. Ich war nicht imstande, meine Arbeit und das Leben einer Ehefrau und Mutter so miteinander in Einklang zu bringen, dass ein Mann, der sich für mich interessierte und der auch mich interessierte, meine Bedingungen hätte akzeptieren können. Ich habe es ernsthaft versucht, aber es ist mir nicht gelungen. Sodass ich sie gleichsam betrogen habe.«
Katharine schüttelte den Kopf.
»Du lebst nicht ihr Leben. Du lebst dein eigenes Leben.«
»So einfach ist das nicht«, sagte Razia.
Vielleicht ist es das wirklich nicht, dachte Katharine.
»Als junger Mensch war ich vielleicht zu ehrgeizig«, sagte Razia nachdenklich. »Als ich von meiner Absicht sprach, Gottes Kleinen Finger zu bauen, begannen die Leute, mich den weiblichen Eiffel zu nennen. Ich war DIE FRAU, die das höchste Gebäude der Welt bauen wollte. Ich kam auf die Titelseiten der Zeitschriften, ins Fernsehen und so weiter.«
Razia lächelte ein wenig wehmütig.
»Damals war mir das wichtig. Ich hatte ein gutes Gefühl dabei. Ich hatte den großen Wunsch, kompetent zu sein. Ich wollte es meinen männlichen Kollegen zeigen. All jenen, die mich gering geschätzt und über meine Schwärmerei gelacht hatten.«
»Und jetzt?«
»Jetzt ... jetzt weiß ich nicht recht. Solche Dinge hören in dem Moment auf wichtig zu sein, wo man versteht, also, wenn man wirklich begreift, dass der Mensch nicht ewig hier ist. Das weiß man zwar immer, irgendwie. Aber es ist ein sehr fernliegendes Wissen. Ein unwirkliches. Erst wenn es Realität wird, ändern sich die Prioritäten.«
Razia betrachtete den Sonnenturm, und auf ihrem Gesicht lag plötzlich ein seltsam schwermütiger Ausdruck.
»Die Menschen haben in Bezug auf hohe Gebäude immer eine Art kollektive Zwangsvorstellung gehabt«, sagte sie. »Seit dem Turmbau zu Babel. In vielen Zivilisationen gibt es Erzählungen von Herrschern, die einen Turm bauen wollten, der bis in den Himmel reicht. Diese Erzählungen gehen meistens nicht gut aus, denn die Götter sind gewöhnlich nicht sonderlich begeistert, wenn die Menschen in ihr Revier eindringen.«
Heute wissen wir zum Glück,
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