Gottes Werk und Teufels Beitrag
Herzfehler«, sagte Homer.
»Ich nehme an, du weißt nicht, wie man ihn nennt«, sagte Dr. Harlow.
»Richtig«, sagte Homer Wells.
Er hätte auf der Stelle etwas über seine Pulmonalklappenstenose erfahren können, wenn er nur gefragt hätte; er hätte ein Röntgenbild haben können und eine Beurteilung durch den Spezialisten – er hätte die Wahrheit erfahren können. Aber wer will die Wahrheit schon aus einer unsympathischen Quelle wissen?
Er ging den Tonsillektomie-Patienten Geschichten vorlesen. Es waren lauter blöde Geschichten – Kinderbücher beeindruckten Homer Wells nicht. Aber die Tonsillektomie-Patienten waren wahrscheinlich nicht lange genug da, um David Copperfield oder Große Erwartungen zu hören.
Schwester Caroline bat ihn, den dicken Mann, der sich von der Prostataoperation erholte, zu baden und ihm den Rücken zu massieren.
»Unterschätze niemals die Lust am Pissen«, sagte der dicke Mann zu Homer Wells.
»Jawohl, Sir«, sagte Homer und massierte das Fleischgebirge, bis der dicke Mann in einem gesunden Rosa schimmerte.
Olive war nicht zu Hause, als Homer nach Ocean View zurückkehrte; sie war an der Reihe beim Flugzeugespähen. Sie benutzten den – wie sie es nannten – Yacht-Ausguckturm im Haven-Club, aber Homer glaubte nicht, daß irgendwelche Flugzeuge erspäht worden waren. Alle männlichen Späher – zumeist Seniors frühere Trinkkumpane – hatten die Umrißzeichnungen der feindlichen Flugzeuge an ihre Spinde geheftet; die Frauen brachten sie mit nach Hause und hefteten sie an Stellen wie etwa die Kühlschranktür. Olive war jeden Tag zwei Stunden lang Flugzeugspäherin.
Homer studierte die Umrißzeichnungen an Olives Kühlschrank.
Das alles könnte ich lernen, dachte er. Ich kann alles lernen, was man über den Apfelanbau wissen kann. Aber schon lange beherrschte er, wie er wußte, eine beinah perfekte geburtshilfliche Technik sowie die andere, viel einfachere Technik – die gegen die Spielregeln verstieß.
Er dachte über Spielregeln nach. Dieser Matrose mit der aufgeschlitzten Hand war nicht in eine Messerstecherei verwickelt gewesen, die irgendwelchen Regeln gehorcht hätte. Bei einem Kampf mit Mr. Rose hätten Mr. Roses eigene Spielregeln gegolten, wie immer sie lauten mochten. Eine Messerstecherei mit Mr. Rose wäre, wie wenn man von einem kleinen Vogel totgepickt wird, dachte Homer Wells. Mr. Rose war ein Künstler – er würde nur eine Nasenspitze nehmen, nur einen Bauchnabel oder eine Brustwarze. Die wahren Spielregeln im Ciderhaus waren die Spielregeln des Mr. Rose.
Und was waren die Spielregeln in St. Cloud’s? Was waren Dr. Larchs Spielregeln? Welche Spielregeln befolgte Dr. Larch, welche übertrat er oder ersetzte er – und woher nahm er den Mut dazu? Candy hielt sich eindeutig an irgendwelche Spielregeln, doch wessen Spielregeln waren es? Und wußte Wally, wie diese Spielregeln lauteten? Und Melony – gehorchte Melony irgendwelchen Spielregeln? fragte sich Homer Wells.
»Schau«, sagte Lorna. »Es ist Krieg, hast du das schon bemerkt?«
»Na und?« sagte Melony.
»Weil er wahrscheinlich hinmuß, deshalb«, sagte Lorna. »Weil er sich entweder freiwillig gemeldet hat oder eingezogen wird.«
Melony schüttelte den Kopf. »Ich kann ihn mir nicht in einem Krieg vorstellen, ihn nicht. Er gehört da einfach nicht hin.«
»Um Gottes willen«, sagte Lorna. »Glaubst du, daß jeder in einem Krieg dorthin gehört?«
»Falls er hingeht, wird er zurückkommen«, sagte Melony. Das Eis auf dem Kennebec im Dezember trug nicht; der Kennebec war ein Gezeitenfluß, er war brackig, und in der Mitte gab es offenes Wasser, grau und kabbelig. Nicht einmal Melony konnte eine Bierflasche bis zur Mitte des Flusses in Bath werfen. Ihre Flasche prallte vom knirschenden Eis ab und machte dabei ein hohles Geräusch; sie rollte zum offenen Wasser, das sie nicht erreichen konnte. Sie scheuchte eine Möwe auf, die sich erhob und ein Stückchen weit über das Eis spazierte – wie eine alte Frau, die eine Menge hinderlicher Unterröcke über eine Pfütze hebt.
»Nicht jeder wird aus diesem Krieg zurückkommen – das ist alles, was ich sage«, erwiderte Lorna.
Wally hatte Mühe, aus Texas zurückzukommen. Es gab eine Reihe von Verzögerungen und schlechtes Wetter; das Flugfeld war gesperrt. Als Homer und Candy ihn in Boston abholten, sagte er ihnen als erstes, daß er nur achtundvierzig Stunden hatte. Er war aber immer noch fröhlich – »Er war immer noch Wally«,
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