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Gottes Werk und Teufels Beitrag

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Titel: Gottes Werk und Teufels Beitrag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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recht, das sollte er«, erwiderte Dr. Larch, voll Stolz auf sein wunderbares Geschöpf.
    Homer Wells erwachte an einem wahren Namens-Tag. An diesem Tag stand ihm bevor, Leiche Nummer drei und seinem ersten Waisenkind einen Namen zu geben. Die neue Leiche taufte er Clara, und wie hätte er den neuen kleinen Jungen anders nennen können als David Copperfield? Zu jener Zeit las er Große Erwartungen, und Große Erwartungen gefiel ihm als Buch besser als David Copperfield. Aber den Namen Pip wollte er niemandem geben, auch weil ihm die Figur des Pip nicht so gut gefiel wie der kleine David. Es war eine leichte Entscheidung, und an dem Morgen erwachte er sehr erfrischt und fähig zu anspruchsvolleren Entscheidungen als dieser.
    Er hatte fast die ganze Nacht durchgeschlafen. Er erwachte nur einmal auf dem Apothekenbett, als er merkte, daß Larch zurückgekehrt war; Larch war im Zimmer, wahrscheinlich um nach ihm zu sehen, aber Homer hielt die Augen geschlossen. Irgendwie wußte er, daß Larch da war, wegen des süßen Ätherdufts, der Larch umgab wie Eau de Cologne, und wegen Larchs gleichmäßigen Atemzügen. Dann spürte er Larchs Hand, die Hand eines Arztes, die Fieber erfühlt, ganz leicht über seine Stirn streichen. Homer Wells, noch keine zwanzig – ziemlich erfahren in geburtshilflichen Techniken und kenntnisreich wie nur ein Arzt in der Fürsorge für »die weiblichen Fortpflanzungsorgane« –, lag ganz ruhig da und tat, als schliefe er.
    Dr. Larch beugte sich über ihn und küßte ihn, ganz leicht, auf die Lippen. Homer hörte Larch flüstern: »Gute Arbeit, Homer.« Er spürte einen zweiten, noch leichteren Kuß. »Gute Arbeit, mein Junge«, sagte der Doktor, und dann verließ er ihn.
    Homer Wells fühlte stumme Tränen in sich aufsteigen, viel mehr Tränen, als er sich erinnerte, beim letzten Mal geweint zu haben. Da hatte er geweint, weil Fuzzy Stone gestorben war und weil er Snowy Meadows und die anderen über Fuzzy belogen hatte. Er weinte und weinte, aber er gab keinen Laut von sich; am nächsten Morgen würde er Dr. Larchs Kopfkissenbezug wechseln müssen, so sehr weinte er. Er weinte, weil er seine ersten Vaterküsse empfangen hatte.
    Natürlich hatte Melony ihn geküßt; inzwischen nicht mehr, aber sie hatte es getan. Und Schwester Edna und Schwester Angela hatten ihn scherzhaft geküßt, aber sie küßten jeden. Dr. Larch hatte ihn noch nie geküßt, und jetzt hatte er ihn zweimal geküßt.
    Homer Wells weinte, weil er nie erlebt hatte, wie schön Vaterküsse sein konnten, und er weinte, weil er bezweifelte, daß Wilbur Larch es je wieder tun würde – oder daß er es getan hätte, wenn er gewußt hätte, daß Homer wach war.
    Dr. Larch ging, den guten Gesundheitszustand der Eklampsiepatientin zu bestaunen – und den ihres blühenden winzigen Kindes, aus dem am nächsten Morgen der Waisenjunge David Copperfield werden sollte (»David Copperfield, junior«, wie Dr. Larch zu sagen beliebte). Dann ging Larch zu der vertrauten Schreibmaschine in Schwester Angelas Büro, doch er konnte nichts schreiben. Er konnte nicht einmal denken, so aufgeregt war er davon, Homer Wells geküßt zu haben. Wenn Homer Wells seine ersten väterlichen Küsse empfangen hatte, so hatte Dr. Larch die ersten Küsse gegeben, die er jemals – ganz gleich ob väterliche oder sonst welche – gegeben hatte seit jenem Tag in der Fremdenpension in Portland, als er sich von Mrs. Eames den Tripper eingefangen hatte. Und die Küsse, die er Mrs. Eames gab, waren eher forschender Natur gewesen als Gaben der Liebe. O Gott, dachte Wilbur Larch, was wird aus mir werden, wenn Homer gehen muß? 
     
    Dort, wo er hingehen sollte, herrschte keine vergleichbare Erregung, vergleichbare Herausforderung, vergleichbare Traurigkeit, vergleichbarer Trübsinn; dort, wo er hingehen sollte, ging es vielmehr freundlich zu, und was würde Homer, bei seiner Herkunft, mit etwas Freundlichem anfangen? Würde es ihn einfach verführen? Würde es denn nicht jeder gern freundlich haben?
    Was wußten Heart’s Haven oder Heart’s Rock von Kummer und Sorgen – und was tat man dort, um sich nützlich zu machen?
    Ja, Olive Worthington litt unter Bruder Buckys Überfällen – unter seinem Brunnenbauerschlamm in ihrem Swimmingpool und seinen Streifzügen über ihre Teppiche. Na und? Ja, Olive sorgte sich, ob Jung Wally Mumm genug hätte – ob er wirklich etwas lernen und das Geschäft mit der Apfelzucht vorantreiben oder ob nicht doch ein allmählich

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