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Gottes Werk und Teufels Beitrag

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Titel: Gottes Werk und Teufels Beitrag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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bedauernswerter Lebemann wie Senior aus ihm werden würde. Was aber waren das für Sorgen, verglichen mit der Arbeit in St. Cloud’s? Waren diese Sorgen nicht banal – im Vergleich mit dem Werk des Herrn und dem Beitrag des Teufels? War das Leben an unfreundlichen Orten nicht seicht?
    Aber Kummer sucht auch freundliche Orte heim; Kummer geht auf Reisen, Kummer kommt zu Besuch. Kummer kann sogar Urlaub nehmen von Orten, wo er gedeiht, von Orten wie St. Cloud’s. Der Kummer, der Heart’s Haven und Heart’s Rock heimsuchte, war eine ziemlich banale und verbreitete Form von Kummer; er begann, wie häufig, mit dem Sichverlieben.
    »Hier in St. Cloud’s«, schrieb Wilbur Larch, »kann ich mir nicht vorstellen, daß jemand sich verliebt; sich hier zu verlieben, das wäre allzu offenkundig ein Luxus.« Larch wußte nicht, daß Schwester Edna seit dem ersten Tag in ihn verliebt gewesen war, aber er hatte recht in seiner Annahme, daß es nicht eben Liebe war, was zwischen Melony und Homer geschah. Und was an den beiden haftenblieb, nachdem die erste Leidenschaft vorbei war, das war gewiß keine Liebe. Und erst das Bild von Mrs. Eames’ Tochter mit dem Ponypenis im Mund: Die Photographie war der älteste »Bewohner« von St. Cloud’s – und trug gewiß keine Liebe in sich. Dieses Bild war von Liebe so weit entfernt wie Heart’s Haven und Heart’s Rock von St. Cloud’s.
    »In andere Teilen der Welt«, schrieb Wilbur Larch, »kann ich mir vorstellen, daß Leute sich immerzu verlieben.«
    Wenn schon nicht immerzu, so doch oft. Der junge Wally Worthington, zum Beispiel, glaubte zweimal verliebt gewesen zu sein, bevor er zwanzig wurde, und einmal, als er einundzwanzig war; jetzt, 194– (er war nur drei Jahre älter als Homer Wells), verliebte sich Wally mit aller Macht zum vierten Mal. Er wußte nicht, daß es diesmal fürs Leben sein würde.
    Das Mädchen, das Jung Wallys Herz sich fürs Leben aussuchen sollte, war die Tochter eines Hummerfischers; er war kein gewöhnlicher Hummerfischer, und so konnte es nicht weiter überraschen, daß er eine außergewöhnliche Tochter hatte. Raymond Kendall war so gut im Hummerfischen, daß andere Hummerfischer ihm mit dem Fernglas zusahen, wie er eine Reuse aufzog und mit Ködern bestückte. Wenn er seine Muringleinen auswechselte, wechselten auch sie ihre aus. Wenn er nicht aufs Meer hinausfuhr, sondern zu Hause blieb oder an seinem Anlegeplatz Reusen reparierte, blieben auch sie zu Hause und reparierten die ihren. Aber sie konnten es ihm nicht gleichtun; er hatte so viele Reusen im Wasser, daß seine eigenen, schwarzorangenen Bojen den Hafen von Heart’s Haven so kunterbunt sprenkelten wie für eine College-Regatta. Eine Abordnung von Yale-Absolventen aus dem Haven-Club hatte Raymond Kendall einmal angefleht, seine Farben in Blau und Weiß abzuändern, aber Kendall murmelte nur, er habe keine Zeit für Spielereien. Auch andere Abordnungen des Haven-Club flehten ihn an; wobei es allerdings kaum je um die Farbe seiner Hummerbojen ging.
    Der Haven-Club lag über dem äußersten Ende der Hafenmole von Heart’s Haven, wo Raymond Kendalls seit jeher sein Hummerbassin und seinen Anlegeplatz hatte. Kendall wohnte über dem Bassin, was einen oberflächlichen Mann verlockt haben könnte, den Bitten des Haven-Club zu entsprechen und seine unmittelbare Umgebung zu verschönern. Sein Anwesen galt, nach den Maßstäben von Sommertouristen, als Beleidigung fürs Auge an einer sonst naturschönen beziehungsweise kostspielig gepflegten Hafenfassade. Sogar sein Schlafzimmerfenster hing voller Bojen, die auf einen frischen Anstrich warteten. Die unterschiedlich reparaturbedürftigen Hummerreusen stapelten sich so hoch auf seinem Anlegeplatz, daß man vom Ufer unmöglich sehen konnte, ob an der anderen Hafenseite Boote festgemacht waren. Der Parkplatz vor dem Hummerbassin war fast immer vollgestellt – nur nicht von Kundenfahrzeugen (denn es gab nie genug Platz für die Kunden); er war voll von verschiedenen Lastwagen und Personenwagen, an denen Raymond Kendall »gerade arbeitete«, und voll von den riesigen, ölverschmierten Bordmotoren für seine Hummerboote.
    Die ganze Umgebung von Raymond Kendalls Hafengrundstück wimmelte nur so vom Durcheinander einer technischen Generalüberholung; alles war in Umbau, unvollständig, auseinandergenommen, noch feucht, auf Ersatzteile wartend – und was den Lärm betraf, so gab es die beständig mahlenden Geräusche des Generators, der die Wassertanks für

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