Gottesopfer (epub)
wäre es gestern geschehen. Wir liefen den Gang hinunter, vom Dormitorium in die Kirche. Was für ein Glück, dass es ihn noch gab! Früher waren die Schwestern so nachts zum Beten in die Kirche gegangen, heute wird er so gut wie nicht mehr benutzt. Auf jeden Fall konnten wir uns alle retten, bis auf Schwester Augustina. Sie kam in den Flammen um. Wir fanden später ihren verkohlten Körper, es war entsetzlich.« Sie bekreuzigte sich.
»Und in der gleichen Nacht starb doch auch Pater Paul, nicht wahr?«, fragte Sam.
»Ja, an einem Herzinfarkt. Wir fanden ihn erst morgens tot in seinem Bett, aber das habe ich Ihnen ja schon gesagt.«
»Weià man, wie der Brand entstanden ist?«
»Nun, man vermutete durch Kerzen. Aber ich sag Ihnen, der Teufel hatte da seine Hände im Spiel. Als wir wegen Pater Paul telefoniert haben, habe ich es nicht erwähnt, weil ich es nicht für wichtig hielt â¦Â« Sie sprach jetzt leiser, als hätte sie Angst, dass jemand mithören könnte. »Ich habe die ganzen Jahre kein Wort darüber verloren, aber es gab da etwas, was sehr eigenartig war.«
Die Schwester hatte Sams ganze Aufmerksamkeit. Er beugte sich leicht in seinem Stuhl vor, um sie besser zu hören und zur Not die Worte von ihren Lippen ablesen zu können.
»Nur die eine Hälfte des Zimmers war verbrannt, das war schon einmal seltsam, und dann lagen in der Ecke auf der anderen Seite abgeschnittene Haare.«
Sam traute seinen Ohren nicht. »Sagten Sie âºabgeschnittene Haareâ¹?«
»Ja, richtig. Wir haben uns damals gewundert. Warum hättesich Schwester Augustina nachts die Haare abschneiden sollen? Das ergibt doch gar keinen Sinn.«
»Nein, das ergibt keinen Sinn, Schwester«, sagte Sam und dachte genau das Gegenteil. Wie oft hatte er sich die Fotos der kahl geschorenen Mordopfer angesehen. Er überlegte und fragte dann: »Hatte Pater Paul mit irgendjemandem Kontakt, auÃer mit den Schwestern natürlich?«
»Dieser alte Mann, Gott hab ihn selig, war schon ein komischer Kauz. Wirklich viel zu tun hatte keine von uns mit ihm. Aber wir hatten einen Jungen hier, der sich ganz rührend um ihn kümmerte. Und Pater Paul war wie ein Vater zu ihm.«
»Einen Jungen?«
»Ja, er kam als Kind zu uns. Ich habe mich oft gefragt, warum. Aber das wusste nur Schwester Augustina. Sie hatte das damals in die Wege geleitet. Wissen Sie, als Sie mich neulich nach Pater Paul fragten und ich in den Akten nachsah, habe ich auch nach einer Akte über den Jungen gesucht. Aber es gibt nichts, gar nichts über ihn.«
»Ist es denn üblich, dass Sie hier auch Waisen aufnehmen? Ich dachte, das hier ist ein Hospiz für Alte und Kranke?«, fragte Sam.
»Er war kein Waise, seine Eltern, zumindest sein Vater, lebten noch. Ich erinnere mich noch an den Tag, als er hier eintraf. Ich stand am Fenster und habe gesehen, wie er ihn einfach hier abgesetzt hat. Kam mit dem Auto, lieà den Jungen aussteigen und fuhr wieder. Er hat ihn in den zehn Jahren nicht einmal besucht. Stellen Sie sich das mal vor.«
Sie machte eine lange Pause, sodass Sam schon die nächste Frage stellen wollte, doch dann sprach sie plötzlich weiter. »Wissen Sie, ich habe nie darüber gesprochen, aber ich hatte schon damals das Gefühl, dass Schwester Augustina und den Jungen irgendetwas verband. Auf der einen Seite kommandierte sie ihn herum und schimpfte ihn viel, auf der anderen Seite lieà sie ihn nie aus den Augen.«
»Wie meinen Sie das?«
Schwester Maria zuckte mit den Schultern und sah nach oben. »Gott verbindet die Menschen auf eigentümlichste Art und Weise. Und nur er allein kennt den wahren Grund.«
Sam nickte, als würde er verstehen, obwohl genau das Gegenteil der Fall war. Mit diesen religiösen Phrasen konnte er einfach nichts anfangen. »Was ist aus dem Jungen geworden?«
»Er verschwand an dem Morgen, als wir Pater Paul fanden. Er hat alle seine Sachen mitgenommen, sogar die zweite Kutte des Paters. Na ja, der alte Mann brauchte ja nur eine fürs Grab. Vielleicht wollte er ein Andenken? Er hat ja sehr an ihm gehangen.«
»Wie hieà der Junge?«, fragte Sam und merkte, dass seine Hände vor Aufregung schweiÃnass waren.
»Lukas hieà er. Als er hierherkam, war er nicht getauft, und so entschied Schwester Augustina, ihn taufen zu lassen. Sie dachte, dass so der Teufel von ihm fernbleiben
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